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Doppeldeutig

Zwischen Umweltschutz und Energie-Ausbau entscheidet ein einziges Wort – nur, was bedeutet es?

Die Diskussion um die Schweizer Energiewende wird dereinst zum Futter der Juristerei und – umso absurder – gibt Stoff für eine sprachwissenschaftliche Grundsatzdiskussion.

Bild: Bild: Urs Flüeler / Keystone

Ein Wort feiert Urstände: «Grundsätzlich» ist der Begriff der Stunde im Parlament, insbesondere in der Energiepolitik. Im eben verabschiedeten Gesetz zur Beschleunigung der Windkraft kommt es vor, in der Solaroffensive und auch im Mantelerlass, der die Stromversorgung der Schweiz sichern soll. Das ist nicht weiter verwunderlich: «Grundsätzlich» steht für Prinzipientreue und gibt Halt wie eine Staumauer im Mont-Blanc-Massiv. Gleichzeitig verströmt es aber auch ein hohes Mass an Flexibilität, von blinder Ideologie abweichen zu können, wenn es der Einzelfall denn verlangt. Warum eigentlich?

Der Duden kennt beide Bedeutungen: «ausnahmslos» und «mit dem Vorbehalt bestimmter Ausnahmen». Weil sich diese beiden Aussagen diametral gegenüberstehen, redet man von einem Januswort, einem Kuriosum der deutschen Sprache. Es eignet sich gemäss Rechtslinguisten deshalb schlecht für Gesetzestexte – ganz besonders, wenn diese die Schweizer Energiewende auf Jahre zementieren sollen. Genau darüber entbrennt nun ein Streit, nur Tage vor der wegweisenden Abstimmung im Nationalrat.

Konkret geht es um einen Artikel in der 140 Seiten langen Gesetzesfahne zum Mantelerlass Strom, den Artikel 9bis. Er ist der Kern der Vorlage. Beim Zubau von Speicherkraftwerken von nationalem Interesse will eine Kommissionsmehrheit des Nationalrats, dass deren Realisierung «grundsätzlich anderen nationalen Interessen», namentlich dem Umweltschutz, vorgeht.

«Unabdingbare Priorisierung»

Für Beat Rieder, Walliser Mitte-Ständerat und einer der Architekten des Mantelerlasses, steht fest: «Mit dem Mantelerlass ist eindeutig die unabdingbare Priorisierung des Energie-Ausbaus gegenüber dem Umweltschutz festgelegt. Sollte dies nicht verstanden werden, braucht es eine Präzisierung.» Rieders erklärtes Ziel ist es, das Bundesgericht mit diesem Gesetz an einen forcierten Ausbau der erneuerbaren Energiequellen zu binden. Mit dieser Deutung ist er nicht allein. Mike Egger, der die SVP in der nationalrätlichen Umweltkommission vertritt, pflichtet ihm bei.

Ganz anders klingt es, wenn man sich unter linken und grünen Energiepolitikerinnen und Energiepolitikern umhört. «Es ist sicher im Sinne der zweiten Bedeutung gemeint, mit dem Vorbehalt bestimmter Ausnahmen», sagt Martina Munz aus der SP. Bei triftigen Gründen sollen Schutzinteressen berücksichtigt werden. Zustimmung erhält Munz von Bastien Girod (Grüne), der sich nach kurzer Rückversicherung beim Kommissionssekretär gewiss ist: Juristisch sei an der Bedeutung von «grundsätzlich» nicht zu rütteln, das hiesse immer, dass Ausnahmen möglich seien.

Nicht so eindeutig sehen es die Umweltverbände. Eine kurze Umfrage lässt vermuten: Die Auslegungsweise des Wortes «grundsätzlich» wird mitentscheiden, ob sie ein allfälliges Referendum ergreifen.

Argumente auf beiden Seiten

Was für Rieders Version spricht: Eine Kommissionsminderheit um Munz will das Wort «grundsätzlich» streichen und das Schweizer Interesse an der Realisierung von Energieprojekten als «gleichrangig mit anderen nationalen Interessen» einstufen. Das würde dann eine Interessensabwägung mit sich bringen, die Rieder eben verhindern will.

Gegen Rieders Interpretation spricht hingegen, dass der Paragraf ohne den Zusatz «grundsätzlich» noch viel absoluter klingen würde. Warum also ein Zusatz? Ausserdem können Umweltverbände anführen, dass sich vergangenen Herbst bereits einmal das Bundesamt für Justiz gegen das absolute Schleifen des Umweltrechts zur Wehr gesetzt hatte: Dafür gäbe es keine Verfassungsgrundlage, hiess es bei der Solaroffensive – mitinitiiert von Beat Rieder.

Ab wann wird eine Ausnahme zur Regel?

Eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt die Schweiz nicht. Am Ende werden Bundesrichterinnen und -richter entscheiden müssen, wie das Gesetz im Einzelfall zu deuten sei. Was natürlich nichts anderes ist als eine Einzelfallabwägung. Entsprechend wichtig wird sein, wie die Debatte im Parlament verläuft: Auf diese wird das Bundesgericht bei seiner Beurteilung abstellen. Absolute Rechtssicherheit gibt es damit nicht, aber eine solche zu erreichen ist auch sehr schwierig. Ganz grundsätzlich.