«Unser Leben hat sich vor zwei Wochen komplett verändert. Wir sitzen gewissermassen in einem Auto, das ungebremst auf eine Klippe zusteuert. Die Wirtschaft steht vor dem Kollaps, viele möchten das Land verlassen.
Der Krieg in der Ukraine ist ein Albtraum. Es werden dort Menschen getötet für nichts. So viele Russinnen und Russen haben Freunde, haben Familie in der Ukraine.
Die Ukraine und wir, wir waren wie Brüder und Schwestern.
Auch ich habe Freunde in der Ukraine. Wir tauschen uns täglich über Telegram aus. Ich befürchte, die Verbindung zwischen Russen und Ukrainern wird gerade jetzt für immer zerstört. Ich sage Krieg, obwohl ich das in Russland nicht sagen dürfte. Aber wenn ich für diese Worte bestraft werde, dann behalte ich wenigstens meinen Stolz.
Unser Land wird gewissermassen von der Landkarte gestrichen für den grossen Rest der Welt. Das schlägt auf die Moral vieler Menschen hier in Moskau, die Konflikte in der Gesellschaft sind spürbar.
Es gibt jene, die verehren Putin, und dann gibt es jene, die hassen Putin.
Ich glaube, dass immer noch eine Mehrheit der Menschen in Russland hinter Putin und seiner so genannten Wahrheit steht. Sie müssen unser Land verstehen. Es ist ein riesiges Land. In Moskau, in St. Petersburg und anderen Städten führen die Menschen ein komplett anderes Leben als die Millionen im Rest des Landes. Der grösste Teil unseres Landes ist ländlich. Es leben dort Menschen, die haben nicht mal Internet, die waren noch nie raus aus ihrem Dorf, noch nie im Ausland, haben noch nie einen Dollar- oder Euro-Schein in der Hand gehalten. Sie schauen sich im TV die Nachrichten an und glauben, was ihnen dort erzählt wird.
In den grossen Städten gibt es viele junge Menschen, die haben im Ausland studiert, haben Freunde in Westeuropa, in den USA, in London. Auch ich habe in London gelebt, auch in New York. Wir haben Verbindungen in den Westen, und diese Verbindungen werden gerade zerstört.
Ich selbst schliesse mich den Demonstrationen gegen den Krieg nicht an, ich bewundere jene für ihren Mut, die das tun. Denn es wird immer gefährlicher. Ich tausche mich über Politik mit Freunden über Telegram aus, ich habe auch einen VPN, so kann ich auch News aus dem Ausland lesen. Es tobt ein Informationskrieg in Russland. Es gibt die Kreml-Propaganda, die chinesische Sichtweise, die Informationen, die aus der Ukraine und dem Westen zu uns gelangen. Du musst jede Information, die du erhältst, dreifach überprüfen.
Wenn ich aus dem Haus gehe, lösche ich alle Nachrichten mit politischen Inhalt.
Das tun auch meine Freunde. Denn die Polizei kontrolliert vor Metro-Stationen oder auf den Strassen die Handys der Leute. Die Polizei fordert die Leute auf, ihre Chatverläufe zu zeigen. Man muss höllisch aufpassen. Niemals darf man Kritik online veröffentlichen in den sozialen Medien. Noch können wir uns in Cafés austauschen, aber ich befürchte, es geht nicht mehr lange, dann werden wir auch dort abgehört. Ich würde für diesen Text gerne mit meinem vollen Namen hinstehen und ein Foto von mir zur Verfügung stellen. Aber das ist mir zu gefährlich.
Würde ich verhaftet, wäre es eine Katastrophe. Für mich, auch für meine Familie. Ich kümmere mich um meine Grossmutter, sie ist Jüdin, erlebte noch den Zweiten Weltkrieg. Ich bin die einzige Person, die sich um sie kümmert. Vor ein paar Tagen sagte sie mir, die Sanktionen des Westens seien heuchlerisch, die USA hätten doch im Irak auch Verbrechen begangen, niemand habe die USA sanktioniert. Auch Deutschland habe nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so leiden müssen wie nun wir Russen.
Ich verstehe, dass die Welt nicht zuschauen kann bei diesem Krieg. Aber ihr bestraft auch all jene Menschen, die nie für Putin gewählt haben, die sich nie für Politik interessiert haben.
Mein Freund möchte Russland verlassen, damit wir wirtschaftlich für uns eine Zukunft haben. Aber ich möchte bleiben. Wenn ich gehe, lasse ich meine Grossmutter zurück. Es würde mir das Herz brechen.
Das Einkommen vieler meiner Bekannten bricht ein, vor allem jener, die im Ausland geschäftlich zu tun hatten. Viele ausländische Geschäfte und Konzerne schliessen ihre Russland-Geschäfte. Es geht nicht darum, dass wir ein paar Wochen nicht mehr bei McDonald's Burger essen können. Wir müssen uns alle nach Jobs umsehen, auch ich. Meine Einkünfte aus meiner Übersetzertätigkeit sind total eingebrochen und wenn die Wirtschaft zusammenbricht, geben die Leute auch kein Geld mehr für einen Besuch im Theater oder im Kino aus. Egal, wie du dich entscheidest, ob du bleibst oder das Land verlässt. Das Leben wird unerträglicher. Unsere Zukunft sieht sehr düster aus.
Meine Gedanken schwanken zwischen Zuversicht und manchmal Resignation. Ich denke dann, dass wir mit Putin noch lange leben müssen. Er klammert sich an seine Macht und wird diese verteidigen.
Und doch macht mir Hoffnung, wenn ich sehe, wie viele liberale, offene, kreative Menschen immer noch im Land bleiben und für unsere offene Kultur kämpfen.
Es ist ein seltsames Gefühl, wenn ich in die Zukunft blicke. In Russland herrscht eine entfesselnde Energie, eine Mischung aus Wut und Zorn. Die Anspannung wird immer schlimmer.
Ich habe auch die Hoffnung, dass dieser fürchterliche Krieg so schnell wie möglich gestoppt wird. Was mir bleibt ist ein Appell. Bitte vergesst nicht, dass Russland nicht Putin ist. Viele junge Menschen wollen nichts mit ihm und seinem Krieg zu tun haben. Wir wollen mit euch Verbindungen haben, uns mit euch austauschen. Wir dürfen nicht in die Rhetorik des Hasses verfallen. Wenn wir den Hass wählen, haben die Bastarde dieser Welt gewonnen. Macht Russland nicht zu eurem Feind.»