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Politik

Wie der Ukraine-Krieg die Schweizer Politik prägte: Neun Thesen zum Krisenjahr 2022

2022 war ein Krisenjahr ‒ schon wieder. Vermeintliche Gewissheiten gerieten ins Wanken, als Russland am 24. Februar die Ukraine angriff. Wie hat sich das auf die Schweizer Politik ausgewirkt?

Nach zwei Corona-Krisenjahren hoffte die Schweiz auf ein ruhigeres, normales 2022. Doch es kam ganz anders. Am 24. Februar griff Russland die Ukraine an. Ein Angriffskrieg in Europa: Es ist eine Zeitenwende. Das prägte auch die Schweizer Politik dieses Jahr stark – in verschiedenster Hinsicht.

Betroffenheit und Solidarität sind gross

Der brutale Angriffskrieg löste hierzulande grosse Betroffenheit und Solidarität aus. Diese hält bis heute ziemlich uneingeschränkt an. Die Schweiz hat rund 70'000 ukrainische Geflüchtete mit dem «Schutzstatus S» unbürokratisch aufgenommen. Das Engagement aus der Zivilbevölkerung ist gross: Viele Geflüchtete werden von Privaten aufgenommen.

Der Bundesrat wirkt bei Kriegsbeginn nicht nur betroffen, sondern auch überrumpelt, er verurteilt den russischen Angriff aber von Beginn weg. Bundespräsident Ignazio Cassis sagt am 24. Februar, wenige Stunden nach Kriegsbeginn: «Heute ist ein trauriger Tag, wie wir ihn schon lange nicht mehr gesehen haben. Ein Tag, wie wir ihn nie wieder sehen wollten.»

Ein Zeichen der Solidarität: In der Altstadt von Arbon TG hängen ukrainische Flaggen mit Friedenstaube.
Bild: Reto Martin

Die Sicherheit rückt ins Zentrum, Kampfjetkritiker können einpacken

Mit dem Krieg rücken plötzlich andere Themen in den Fokus. «Innert weniger Tage haben sich die Prioritäten und Sorgen geändert», erinnert sich Nationalrat Franz Grüter (SVP). Zunächst ist es vor allem die Sicherheitspolitik, die in neuem Lichte dasteht. Das zeigt sich beispielsweise auch daran, dass Behörden Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern erhalten, die sich nach den – zuvor oft belächelten – Schutzräumen erkundigen.

Politisch geschehen zwei bemerkenswerte Schritte: Verteidigungsministerin Viola Amherd legt den Initianten öffentlich nahe, sie mögen die Volksinitiative gegen die F-35-Kampfjets zurückziehen – «ein Novum», wie der langjährige Politikbeobachter Claude Longchamp sagt. Später unterzeichnet die Schweiz den Kaufvertrag trotz eingereichter Initiative. Der zweite bemerkenswerte Schritt: Das Parlament erhöht das Armeebudget massiv. Bis 2030 soll es mindestens 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen. Die Ausgaben steigen damit von 5,3 Milliarden auf rund 9,4 Milliarden. Eine solch starke Erhöhung hätte ohne Ukraine-Krieg keine Mehrheit gefunden.

Die Schweiz fürchtet das Blackout – und gibt Gegensteuer

Weil Russlands Präsident Putin den Gashahn zudreht, fürchtet die Schweiz um ihre Energieversorgung. Die Abhängigkeit vom Ausland wird allen deutlich vor Augen geführt, der Präsident der Aufsichtsbehörde Elcom, Werner Luginbühl, rät zum Kauf von Kerzen. «In einer ersten Phase herrschten Hektik und Verunsicherung», sagt Longchamp, «danach zeichnete sich eine gewisse Strategie ab.»

Der Bundesrat gleist unter anderem eine Wasserkraftreserve auf und installiert das Gaskraftwerk in Birr, das im Notfall zum Einsatz kommen soll. Auch mittelfristige Massnahmen werden angepackt. Inzwischen sprechen Experten von einer gewissen Entspannung – und warnen gleichzeitig vor dem Winter 2023/24, weil Russland nächstes Jahr womöglich gar kein Gas nach Europa liefern werde.

Die Energieversorgung treibt die Politik um. 
Bild: Anthony Anex / KEYSTONE

Unter Druck kann die Politik in den Turbomodus schalten

Beim Ausbau der erneuerbaren Energien schaltet auch das Parlament in den Turbomodus. Die sogenannte Solaroffensive etwa peitscht es in einer Session durch beide Räte. Irène Kälin, Nationalratspräsidentin 2021/22, sagt: «Obwohl wir tendenziell langsame Strukturen haben, können wir in Krisensituationen schnell handeln. Das ist erfreulich.» Andere merken indes auch an, man dürfe sich nicht ans ausserordentliche Vorgehen im Eilzugstempo gewöhnen.

Die Schweiz sucht ihren Platz in der Welt – und findet ihn in Europa

Es ist eine der heissen politischen Fragen hierzulande nach Kriegsbeginn: Übernimmt die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland oder nicht? Nach einigem Hin und Her sowie viel Kritik und Druck entscheidet der Bundesrat schliesslich: Ja. «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral», begründete Bundespräsident Ignazio Cassis den Schritt. Kritik kommt von der SVP: Es sei ein Bruch der Neutralität, man vergebe die Chance, als Vermittlerin aufzutreten. SVP-Doyen Christoph Blocher kündigt eine Neutralitätsinitiative an.

Mit der Übernahme der Sanktionen stellt sich die Schweiz auf die Seite des Westens, auch wenn sie aus Neutralitätsgründen keine Waffen liefert und deren Weitergabe verhindert. Auch angesichts der autoritären Tendenzen Chinas konzentriert sich die Schweiz wieder stärker auf Europa.

Steigende Preise machen vielen Sorgen, doch die Politik bremst

Steigende Strompreise, Krankenkassenprämien und die Inflation lösen auf dem politischen Parkett Hektik aus. Die Forderungen sind zahlreich: Benzinpreis vergünstigen, AHV-Renten und Prämienverbilligungen erhöhen, hohe Energiepreise abfedern. Der politische Aktivismus verlief bisher weitgehend im Sand – auch, weil sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiteten und die Inflation deutlich tiefer ist als im Ausland. Die Debatte dürfte 2023 weitergehen, denn die steigenden Preise sind im Portemonnaie der Menschen spürbar, insbesondere bei jenen mit tiefem Einkommen.

Die Suche nach Kompromisse funktioniert besser als auch schon

In der Coronakrise war der Ton zuweilen gehässig, die SVP wetterte gegen die angebliche «Diktatur» des Bundesrats. 2022 verliefen die Debatten über weite Strecken konzilianter. Trotz der grössten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg hütet sich die SVP grossmehrheitlich davor, gegen die ukrainischen Schutzsuchenden Stimmung zu machen. Und Politologe Claude Longchamp sagt: «Die Suche nach Kompromissen funktioniert besser als auch schon.»

Auch die Bundesratswahl verläuft ohne Störmanöver: Im Bild die neugewählten Bundesräte Elisabeth Baume-Schneider (SP) und Albert Rösti (SVP).
Bild: Marcel Bieri / KEYSTONE

Der Ton dürfte allerdings wieder rauer werden, schliesslich sind nächstes Jahr nationale Wahlen. Longchamp wagt eine erste Prognose: «Die grüne Welle zeigt Auslauftendenzen – nicht nur, aber auch wegen des Ukraine-Kriegs.» 2019 sei es darum gegangen, den Klimawandel auf die Agenda zu bringen – «und das können die Grünen», sagt er. Nun aber müssten Lösungen gefunden werden, und hier sei die GLP im Vorteil: «Sie hat grössere Chancen, mehrheitsfähige Kompromisse zu schmieden.»

Den Jugendlichen fehlt die Zuversicht

Erst Coronakrise, dann der Ukraine-Krieg, dazu die Klimakrise: Die Unsicherheiten sind gross. Sorgen blickt Claude Longchamp auf die junge Generation. Er sagt: «Die etablierte Politik reagiert mit Zuversicht auf die Herausforderungen. Die Jugendlichen hingegen schauen pessimistisch in die Zukunft.» Gemäss dem Jugendbarometer gab es seit Befragungsbeginn noch nie so wenige junge Menschen, die bezüglich ihrer eigenen Zukunft zuversichtlich waren. «Möglicherweise zeichnet sich hier eine Krisengeneration ab.» Das könnte auch politische Auswirkungen haben, sagt er: In den 1980er-Jahren sei daraus die grüne Bewegung entstanden.

Wir schätzen wieder mehr, was wir haben

Bei allen düsteren Aussichten, bei aller Unsicherheit: Im Vergleich zu manch anderem Land geht es der Schweiz sehr gut. Irène Kälin war als Nationalratspräsidentin 2022 an mehreren Treffen im Ausland, reiste auch in die Ukraine. Sie sagt: «Ich glaube, wir schätzen unsere Demokratie wieder mehr, und wie gut wir es im Vergleich zu anderen Ländern haben.»

Irène Kälin bei ihrem Besuch in der Ukraine Ende April 2022. 
Bild: Peter Klaunzer / EPA