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Geschlechtsidentität

Weiblich, männlich oder nichtbinär? Der Bundesrat will vorerst kein drittes Geschlecht einführen

Die Gesellschaft sei noch nicht bereit für ein drittes, nichtbinäres Geschlecht. Zu diesem Schluss kommt der Bundesrat in einem Bericht, der bei den betroffenen Menschen für Kopfschütteln sorgt.

In vielen Ländern Europas gibt es nebst der männlichen und der weiblichen Kategorie ein drittes Geschlecht – oft wird es als «X» oder «divers» bezeichnet.
Bild: Bild: iStockphoto

«Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Einführung eines dritten Geschlechts sind derzeit nicht gegeben.» Das schreibt der Bundesrat in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht . Auch ein genereller Verzicht auf den Geschlechtereintrag im Personenregister sei aktuell nicht angebracht. Heisst: Wer sich als nichtbinär – also weder als explizit männlich noch als explizit weiblich – identifiziert, der muss sich auch in naher Zukunft zwingend entscheiden, ob er sich als Frau oder Mann eintragen lässt.

Der Bundesrat verweist darauf, dass mit der Einführung eines dritten Geschlechts «weitreichende Konsequenzen verbunden wären». So müsste nicht nur die Verfassung angepasst werden, sondern auch zahlreiche Gesetze und Verordnungen. Über die Bücher müsste der Bund etwa bei der Militärdienstpflicht oder diversen Bestimmungen im Sozialversicherungsrecht. Weil «das binäre Geschlechtermodell nach wie vor stark in der Gesellschaft und im alltäglichen Leben verankert» sei, wolle die Regierung auch künftig daran festhalten.

«Bundesrat scheut Verantwortung»

Der Bundesrat reagiert mit seinem Bericht auf zwei Postulate, die der Nationalrat vor fünf Jahren angenommen hat. Eines davon hat Sibel Arslan (Grüne/BS) eingereicht. Die Nationalrätin zeigt sich auf Anfrage enttäuscht: «Der Bundesrat schiebt mit dem Verweis auf den fehlenden gesellschaftlichen Diskurs eine Begründung vor. Tatsache ist, dass er sich vor der gesetzgeberischen Verantwortung scheut.» Die Landesregierung sei in ihrer jetzigen Zusammensetzung nicht in der Lage, dem Thema das nötige Gewicht beizumessen, so Arslan weiter.

Damit spielt die Baslerin auf den bevorstehenden Führungswechsel im Justizdepartement an. Per Ende Jahr gibt FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter das Departement an die neu gewählte SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ab. Letztere hat sich in der Vergangenheit in gesellschaftspolitischen Themen deutlich offener gezeigt als Keller-Sutter. Dessen sind sich auch die bürgerlichen Vertreter im Bundesrat bewusst: Sie haben dem Vernehmen nach darauf gedrängt, den Postulatsbericht noch im alten Jahr zu verabschieden. Eigentlich hätte dieser erst im neuen Jahr veröffentlicht werden sollen.

So ist die Geschlechterfrage in anderen Ländern geregelt

Deutschland anerkennt rechtlich die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern. Seit Ende 2018 besteht die Möglichkeit, beim Eintrag ins Personenstandsregister zwischen den Optionen männlich, weiblich oder divers zu wählen. Auch möglich ist es, das Geschlecht offen zu lassen.
In den Niederlanden muss das Geschlecht spätestens ab 2025 nicht mehr zwingend angegeben werden. Seit 2018 kann im Personenregister zudem die Option «nichtbinär» gewählt werden.
In Österreich können intergeschlechtliche Personen – sie werden nicht mit eindeutig weiblichen oder männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren – auf einen Geschlechtereintrag verzichten oder sich als «divers», «inter» oder «offen» eintragen lassen.
Auch Australien, Neuseeland, Argentinien, die USA und Teile Kanadas kennen ein drittes Geschlecht, etwa in Form der Bezeichnungen «X», «non-specific» oder «unspecified».

Ethikkommission plädiert für drittes Geschlecht

Das Transgender Netzwerk Schweiz (TGNS) bezeichnet den Bericht des Bundesrates als «Ohrfeige gegen nichtbinäre Menschen». Die Landesregierung demonstriere damit vor allem «seine eigene feindliche Einstellung» gegenüber Menschen, die sich nicht den binären Geschlechterkategorien zugehörig fühlen, schreibt das TGNS in einer Mitteilung. Es verweist auf einen Bericht der Nationalen Ethikkommission von 2020. Diese kam zum Schluss, dass die heutige Regelung unbefriedigend sei, weil sie die Interessen von nichtbinären Menschen ausser Acht lasse. Deshalb empfiehlt die Kommission, in einem ersten Schritt eine dritte Eintragungsmöglichkeit zu schaffen und anschliessend die allgemeine Abschaffung des Geschlechtseintrags zu prüfen.

Angehörige der LGBTQI-Community demonstrieren anlässlich der Pride in Zürich.
Bild: Bild: Melanie Duchene / Keystone

Sibel Arslan will nun dafür sorgen, dass trotz der bundesrätlichen Zurückhaltung Bewegung in die Sache kommt – und zwar via Parlament. Arslan plant, bereits an der nächsten Sitzung der Rechtskommission erneut einen Vorstoss einzureichen, um ein drittes Geschlecht in der Schweiz zu ermöglichen.

Derweil wird sich auch das Bundesgericht bald mit der Frage befassen. Eine in Deutschland lebende Person mit Schweizer Staatsangehörigkeit hat die Möglichkeit eines leeren Geschlechtereintrags im deutschen Zivilstandsregister genutzt. Sie will ihren Eintrag nun auch im Schweizer Register leer lassen. Der Fall ist beim Gericht hängig.