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Ungarn

Wegen systematischer Korruption: Brüssel will Ungarn 7,5 Milliarden aus EU-Budget streichen

Vetternwirtschaft und Missbrauch von EU-Fördermitteln: Die EU will Ungarn Kohäsionsmilliarden streichen.

«Ein Witz»: Viktor Orban hält nicht viel von der Kritik aus Brüssel. 
Bild: Keystone

Es ist ein Novum in der Geschichte der Europäischen Union: Zum ersten Mal will Brüssel einem Mitgliedsland wegen Mängel bei der Rechtsstaatlichkeit EU-Gelder entziehen. Am Sonntag beantragte die EU-Kommission, Ungarn wegen systematischer Korruption bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und dem Missbrauch von EU-Mitteln rund 7,5 Milliarden Euro zu streichen. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Streits, der sich schon Jahre hinzieht. Die 26 übrigen EU-Mitgliedsstaaten haben nun zwei Monate Zeit, zu entscheiden, ob sie dem Antrag folgen.

Konkret wird der ungarische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban vorgeworfen, mit EU-Mitteln finanzierte Staatsaufträge an Günstlinge zu vergeben und Ermittlungen wegen Korruption systematisch im Sand verlaufen zu lassen.

Orban will einlenken, aber niemand hat noch Vertrauen in sein Wort

Seit bekannt wurde, dass die EU-Kommission diesmal ernstmachen will, versuchte Ungarn in letzter Minute noch einzulenken und schlug 17 Massnahmen vor, darunter beispielsweise die Gründung einer unabhängigen Anti-Korruptionsbehörde. Die EU-Kommission begrüsst die Vorschläge als einen «Schritt in die richtige Richtung». Aber bevor sie sich von ihrem Plan abbringen lässt, muss Budapest erst Tatsachen schaffen und die entsprechenden Gesetze verabschieden.

Der ungarische Oppositionelle Akos Hadhazy macht ein Foto des Schossberger Schlosses aus dem 19. Jahrhundert in Tura, das Orbans Schwiegersohn gehört. 
Bild: Keystone

In den Jahren 2021 bis 2027 erhält Ungarn über 20 Milliarden Euro im Rahmen der EU-Kohäsionspolitik. Zusammen mit anderen EU-Geldern, den Corona-Geldern und den Agrarhilfen wären es aber noch viel mehr, insgesamt gegen 50 Milliarden Euro. Die Hilfen machen einen beträchtlichen Anteil an der ungarischen Wertschöpfung aus. Und auch von der Schweiz gibt es Geld: Im Rahmen des zweiten Schweizer Kohäsionsbeitrags erhält Ungarn 87,6 Millionen Franken. Beim ersten Kohäsionspaket waren es noch 124,2 Millionen Franken.

Orban hat sich ins Abseits manövriert – sogar Polen ist nun kritisch

Die Strafmassnahme kommt zu einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Ungarn und der EU bereits stark belastet sind. Neben der jetzigen Kürzung hält die EU-Kommission auch die rund sechs Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds zurück. Am vergangenen Donnerstag erklärte das EU-Parlament mit einer deutlichen Mehrheit, dass Ungarn keine richtige Demokratie mehr sei. Unter Viktor Orban sei das Land «zu einem hybriden System der Wahlautokratie» geworden. Orban selber bezeichnete die Erklärung der EU-Volksvertreter später als «Witz».

Hat gut Lachen: Der russische Aussenminister Sergej Lawrow mit seinem ungarischen Kollegen Péter Szíjjártó nach den Gasverhandlungen im Juli in Moskau. 
Bild: Keystone

Aber auch abseits seines Streits mit den EU-Institutionen in Brüssel findet sich der seit 2010 regierende Regierungschef zunehmend isoliert. Grund ist seine Haltung nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Mehrmals hat er die gemeinsamen EU-Sanktionen aufgehalten oder abzuschwächen versucht. An Waffenlieferungen beteiligt sich Ungarn nicht und verbietet den Transfer über sein Gebiet. Während die restlichen EU-Länder sich vom russischen Gas unabhängig zu machen versuchen, hat Ungarn mit Putin einen Vertrag über zusätzliche Lieferungen von 5,8 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag ausgehandelt. Diese Haltung belastet auch stark das Verhältnis zu Polen, dem bislang engsten Alliierten Ungarns in seinem Streit mit der EU. Eine Hoffnung setzt der Ungare in die Wahl von Georgia Meloni an die Spitze der italienischen Regierung. Die rechtsextreme Politikerin ist erklärtermassen ein grosser von Orban.

Sobald Ungarn Netto-Zahler wird will Orban EU-Mitgliedschaft überdenken

Wie Orban die aktuelle Lage in Europa sieht, machte er bei einer internen Rede vor Parteifreunden deutlich, über deren Inhalt ungarische Medien berichtet haben. Demnach denkt Orban, dass der Krieg bis 2030 dauern und die Ukraine bis zu einem Drittel ihres Staatsgebiets verlieren könnte. Im Herbst werde er sich dafür einsetzen, die EU-Sanktionen nicht mehr zu verlängern. Weiter rechnet Orban damit, dass bis 2030 die Eurozone und mit ihr die EU zerfallen könnte. Bis dahin müsse Ungarn aber ohnehin darüber nachdenken, was ihr die EU-Mitgliedschaft noch bringe, da man bald Netto-Zahler werde, also mehr ins EU-Budget einzahle, als man zurückerhält. Zur Zukunft seiner Partei sagte Orban gemäss den Medienberichten, dass eine neue Generation an gut ausgebildeten und fähigen Fidesz-Leuten nachwachse, sodass man noch bis 2060 an der Macht bleiben könnte.