Den Zusammenhang zwischen der ersten Bundesverfassung der Schweiz, die nun allenthalben als grosses Meisterstück gefeiert wird, und der Europäischen Union hat in diesen Tagen der Berner Historiker André Holenstein hergestellt. In einem geistreichen Interview mit der NZZ deutete er Parallelen an: 1848 wurde die neue Bundesverfassung gegen grossen internen Widerstand mehr oder weniger durchgedrückt. Sie brachte so revolutionäre Neuerungen wie die allgemeinen Bürgerrechte, die Niederlassungs-, die Handels- und Gewerbefreiheit. Das war gemäss Holenstein eine «radikale Transformation». So entstand aus dem Haufen von eigensinnigen Kleinstaaten plötzlich ein Bundesstaat mit Binnenmarkt und Personenfreizügigkeit, geregelt in einem «institutionellen Rahmenabkommen zwischen Bund und Kantonen». Das Vokabular kommt uns bekannt vor: Es stammt aus der aktuellen und reichlich verfahrenen Debatte um eine neue Vertragsregelung mit der EU (nachdem der Bundesrat im Mai 2021 einen fertigen Entwurf im Meer der Mutlosigkeit versenkt hatte).
Damals war also vieles ähnlich wie heute, bloss auf einer anderen Ebene. Die Kantone mussten Souveränität abgeben zugunsten eines Bundes. So wäre es heute auch zwischen Brüssel und Bern. Holenstein lässt durchschimmern, dass der Bundesstaat dennoch insgesamt dem ganzen Land genützt hat und dass in Analogie dazu auch eine Integration der Schweiz in die EU später einmal zu einem positiven Fazit führen würde. Man mag darüber streiten, doch eines ist klar: Die Schweiz musste immer zu ihrem Glück gezwungen werden. Wenn wir uns als «Willensnation» bezeichnen, dann lügen wir uns in die Tasche. Die Schweiz war immer eine «Willensnation des Auslandes» (Holenstein). Die frühe Eidgenossenschaft war stets enorm zerstritten, die kleinen Gebietseinheiten (später Orte, noch später Kantone) waren locker und abwechslungsreich miteinander verbunden; es gab nirgends weder ein Interesse noch die Energie zu einem Einigungsschritt.
Deshalb müssen wir Napoleon und einigen anderen dankbar sein. Der erste Konsul und spätere Kaiser sagte einmal, er sei zwar an die Spitze des französischen Staates berufen worden, er würde es sich aber nicht zutrauen, die Schweiz zu regieren. Er verordnete dieser nach dem Einmarsch seiner Truppen zuerst einen Einheitsstaat (Helvetik) und dann, als dies nicht klappte, mit der Mediationsverfassung eine Rückkehr zum Föderalismus. Für den Historiker Thomas Maissen ist Napoleon der «Erfinder der modernen Schweiz». Der Wiener Kongress schliesslich legte mit dem Staatenbund von 22 Kantonen den Keim für die spätere Entwicklung.
Vom Ausland also gedrängt und gestossen, gelang dann der wahre Coup: 23 Männer schafften es in 31 Sitzungen während 51 Tagen, die neue Verfassung aus dem Boden zu stampfen, gleich einem «demokratischen Blitz» (Markus Somm). Im Februar 1848 trat die Verfassungskommission zusammen, im Dezember war der erste Bundesrat gewählt. Weshalb diese Eile? Es wäre gut möglich gewesen, dass die nach der Ära Napoleon wieder erstarkten autokratischen Mächte Europas das progressive Experiment der Schweizer gestoppt hätten. Doch die Herrscherhäuser waren durch die überall ausbrechenden Revolutionen dieses Jahres absorbiert.
Dass die Eidgenossen um Grössen wie Ulrich Ochsenbein & Co. es schafften, die Schweiz im Windschatten des Revolutionsjahres 1848 in zehn Monaten auf die Füsse zu stellen, ist eine riesengrosse, autonome schweizerische Leistung. Zu Recht wird diese heute gefeiert. Sie hat im Kern aber mehr mit Napoleon zu tun als mit Wilhelm Tell oder Arnold Winkelried. Diese Fähigkeit, ein politisches Momentum schnell zu nutzen, ist diesem Land aber leider abhandengekommen. Vielleicht wird dereinst in der Europapolitik auch wieder nur durch Schieben und Drücken des Auslands etwas zustande kommen.
Andrea Masüger ist Publizist, Verwaltungsrat von Somedia und Präsident des Verlegerverbandes Schweizer Medien (VSM).