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Deutschland

Warum war Ibrahim A. noch im Land? Nach der Bluttat von Brokstedt diskutiert Deutschland, was in der Migrationspolitik falsch läuft

Der Amoklauf eines Palästinensers in Norddeutschland sorgt für Empörung. Einmal mehr ist es den staatlichen Organen nicht gelungen, die Bevölkerung vor einem Täter zu schützen, dessen Gefährlichkeit seit langem bekannt war. 
Einsatzkräfte in Brokstedt im Bundesland Schleswig-Holstein, wo der Zug, in dem das Attentat geschah, zum Stehen kam.  
Bild: Bild: Jonas Walzberg/DPA (25. Januar 2023)

Die Szenen, die sich am Mittwochnachmittag in einem Regionalzug zwischen Kiel und Hamburg abgespielt haben, müssen furchtbar gewesen sein: Der 33-jährige Ibrahim A., ein staatenloser Palästinenser, stach dort mit einem Messer auf Passagiere ein. Als der Zug in dem Örtchen Brokstedt zum Stehen kam, waren eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger tot; fünf weitere Personen wurden verletzt. Angeblich sollen Anwesende Schlimmeres verhindert haben, indem sie Taschen auf den Täter warfen.

Die Empörung, die weite Teile der deutschen Öffentlichkeit seither erfasst hat, lässt sich auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen spricht vieles dafür, dass die Tat hätte verhindert werden können. Zum anderen wird ein Muster erkennbar: Dass junge Männer mit Migrationshintergrund derartige Delikte begehen, ist in den letzten Jahren und Monaten immer wieder vorgekommen, und oft waren die Täter bereits vorher auffällig geworden.

Ibrahim A. kam 2014 nach Deutschland; 2016 erhielt er subsidiären Schutz, was bedeutet, dass er zwar nicht als Flüchtling anerkannt wurde, man jedoch annahm, dass ihm im Fall einer Rückkehr in seine Heimat ernsthafter Schaden drohe, etwa durch Folter.

Deutschland schafft relativ wenige Straftäter aus

Seit 2015 hat Ibrahim A. offenbar zwölf Straftaten begangen, darunter Ladendiebstahl und Scheckbetrug, aber auch sexuelle Nötigung und gefährliche Körperverletzung. Dreimal setzte er ein Messer ein; einmal verletzte er einen Mann lebensgefährlich. Letzten August verurteilte ihn ein Gericht in erster Instanz zu einem Jahr Haft. Sechs Tage vor seiner jüngsten Tat wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen.

Ibrahim A.s Amoklauf fügt sich in eine Reihe ähnlicher Bluttaten: So erstach ein Somalier im Sommer 2021 in Würzburg drei Frauen; ein weiterer Somalier ermordete im Oktober letzten Jahres in Ludwigshafen zwei Handwerker, während im Dezember in Illerkirchberg ein Eritreer eine 14-jährige Schülerin erstach und deren Freundin schwer verletzte.

Ein Syrer, der im November 2021 in einem ICE zwischen Nürnberg und Regensburg vier Personen schwer verletzte, wurde kürzlich zu einer Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt. Die Täter kamen aus Ländern, die als so unsicher gelten, dass Deutschland niemanden dorthin ausschafft.

Blumen und Kerzen erinnern an das Attentat von Würzburg, bei dem im Sommer 2021 drei Passantinnen ums Leben kamen.
Bild: Bild: Karl-Josef Hildenbrand/AP (26. Juni 2021)

Die deutsche Politik ist uneins darüber, was sich nun ändern soll: Während Christdemokraten danach rufen, Ausschaffungen in Länder wie Syrien oder Afghanistan wieder aufzunehmen, plädieren Sozialdemokraten und Grüne für eine bessere Betreuung potenzieller Täter.

Nach der jüngsten Bluttat stellte allerdings auch die sozialdemokratische Innenministerin Nancy Faeser die Frage, wie es habe sein können, «dass ein solcher Täter noch im Land war». Durch sein im europäischen Vergleich grosszügiges Asylrecht und einen ausgebauten Sozialstaat zieht Deutschland zahlreiche Zuwanderer an; gleichzeitig werden deutlich weniger von ihnen wieder ausgeschafft als etwa in der Schweiz, wo sein Aufenthaltsrecht verliert, wer schwere Straftaten begeht.

Ist er geisteskrank oder ein Islamist?

Taten wie jene von Brokstedt mögen bei manchen Bürgern das Vertrauen in den Staat und seine Durchsetzungsfähigkeit erschüttern. Dabei ist Deutschland in den letzten Jahren eher sicherer geworden: 2007 erreichte die Zahl der Gewaltdelikte mit 218’000 Taten einen Höchststand; seither ist sie fast jedes Jahr zurückgegangen und lag 2021 bei rund 165’000 Fällen. Die Zahl der Morde lag 2021 bei 220; 2002 waren es noch über 400 gewesen. Wer meint, das Leben in der Bundesrepublik sei mit der Flüchtlingskrise von 2015 plötzlich gefährlich geworden, irrt also.

Was Ibrahim A. zu seiner Tat bewogen hat, wird nun untersucht. Dabei stellt sich die Frage, ob er psychisch krank ist oder ein militanter Islamist. Einfach dürfte dies nicht zu beurteilen sein, denn die Grenzen zwischen Wahn und Extremismus sind bekanntlich oft fliessend.

Das Ergebnis der Untersuchung dürfte das Strafmass beeinflussen. Der gelegentlich geäusserte Verdacht, deutsche Richter und Gutachter neigten dazu, Islamisten für krank zu erklären, während Täter ohne vergleichbaren Hintergrund härter abgeurteilt würden, mag manchem naheliegend erscheinen, doch richtig muss er deswegen nicht sein.

Es gibt durchaus auch Fälle, die das Gegenteil nahelegen: In der Silvesternacht 2018/19 fuhr ein Deutscher ohne Migrationshintergrund im Ruhrgebiet in eine Menschenmenge, um Migranten zu töten. Er verletzte zehn Passanten, von denen viele aus Syrien stammten. Ein Gericht erklärte ihn wegen paranoider Schizophrenie für schuldunfähig.