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Tunesien

Tunesiens Präsident baut Macht deutlich aus

In Tunesien hat eine grosse Mehrheit der Wähler bei einem Referendum für eine neue Verfassung und damit für einen erheblichen Machtzuwachs des Präsidenten gestimmt. Die Zustimmung lag bei 94,6 Prozent, wie die Wahlbehörde in der Nacht zum Mittwoch mitteilte.
Bild: Keystone/AP/Slim Abid

Obwohl die Beteiligung an dem Referendum am Montag bei nicht einmal einem Drittel der Wahlberechtigten lag, kann die Verfassung in Kraft treten. Sie sieht keine Instanz mehr vor, die den Präsidenten kontrollieren oder ihn gar des Amtes entheben könnte.

Staatschef Kais Saied baut seine Macht damit zulasten von Parlament und Justiz aus. Er kann künftig etwa die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen, ohne dass das Parlament dem zustimmen müsste. Zudem soll er die Volksvertretung auflösen können. Die Verfassung sollte mit Verkündung der offiziellen Ergebnisse automatisch in Kraft treten. Saied hat zudem bereits angekündigt, auch das Wahlrecht ändern zu wollen.

Bislang setzte Saied viele weitreichende Entscheidungen per Dekret durch und umging damit die bisherige Verfassung. Sie war 2014 eingeführt worden und hatte die Macht des Präsident zugunsten des Parlaments und des Regierungschefs beschnitten. Die Einführung der neuen Verfassung ist Teil eines von ihm vorangetriebenen politischen Umbaus des Landes, der auch Parlamentswahlen gegen Ende des Jahres vorsieht. Ein Jahr vor dem Referendum setzte Saied den damaligen Regierungschef ab und zwang das Parlament, seine Arbeit auszusetzen. Später löste er die Volksvertretung ganz auf.

Zuvor hatte sich Saied einen monatelangen Machtkampf mit der islamisch-konservativen Partei Ennahda geliefert, die er durch den Schritt erheblich schwächte. Die als vergleichsweise moderat geltenden Islamisten waren stärkste Kraft im Parlament gewesen und verurteilten die umstrittenen Massnahmen Saieds als "Staatsstreich". In der Bevölkerung haben sie indes deutlich an Zuspruch verloren. Die Partei gilt weithin als korrupt, die Bilanz ihrer Parlamentsarbeit als enttäuschend.

In Tunesien hatten 2010 die arabischen Aufstände begonnen. Damals zwangen mehrere Länder in der arabischen Welt ihre autokratischen Langzeitherrscher in die Knie. Doch Tunesien gelang als einzigem Land in der Region der Wandel zur Demokratie. Kritiker werfen Saied vor, nun auch Tunesien wieder in eine Diktatur zurückführen zu wollen.

Tunesien ist gespalten zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten. Seit Monaten kommt es auf beiden Seiten immer wieder zu Protesten. Die Opposition hatte zum Boykott des Referendums aufgerufen und den gesamten Prozess als illegitim kritisiert.

Das Referendum wurde auch als Abstimmung über Saieds bisherige Führung angesehen. Umfragen hatten schon vorher auf eine geringe Wahlbeteiligung der mehr als neun Millionen zur Abstimmung aufgerufenen Tunesier hingedeutet.

Viele Tunesier treiben dringendere Sorgen um als ein Referendum über die politische Führung des Landes. Viele von ihnen sind heute ärmer als noch zu Zeiten des Langzeitherrschers Zine El Abidine Ben Ali, den Massenproteste 2011 aus dem Amt drängten. Gross ist der Zweifel, dass die Demokratie als Staatsform geeignet sei, um die wirtschaftliche Krise zu bewältigen. Da die Abgeordneten in der Vergangenheit eher mit Streitereien als mit dringend notwendigen Reformen beschäftigt waren, hoffen viele auf einen starken Präsidenten, der die Probleme angehen wird. Jedoch hat auch Saieds Politik wenig zur Verbesserung der Lage beigetragen. Ob die Unterstützung für ihn von Dauer sein wird, bleibt fraglich.

Seit Beginn von Saieds politischem Umbau haben schätzungsweise rund 20.000 Menschen das Land in Richtung Europa verlassen, die meisten von ihnen per Boot über das Mittelmeer. Tunesier stellen nach Angaben des Tunesischen Forums für ökonomische und soziale Rechte inzwischen die grösste Gruppe aller in Italien ankommenden Migranten.

In der neuen Verfassung heisst es, Tunesien sei ein Teil der "islamischen Gemeinschaft" und der Staat bemühe sich im Rahmen des demokratischen Systems um die Umsetzung der Ziele, zu denen etwa der Schutz des Lebens zähle. Einige Beobachter werten dies als strategische Massnahme des als säkular geltenden Staatschefs Saied, um auch die Anhänger der Ennahda-Partei anzusprechen. Was genau der vage gehaltene Absatz in der Praxis meint, ist indes nicht klar.

Eine Abkehr vom Wandel zur Demokratie in Tunesien würde hart erarbeitete Fortschritte zunichte machen - gerade im Vergleich zu anderen Ländern der Region, in denen der sogenannte Arabische Frühling wenig nachhaltige Wirkung zeigte. So wurde im Nachbarland Libyen 2011 der Machthaber Muammar al-Gaddafi bei einem Militäreinsatz festgenommen und getötet. Das Land stürzte danach in einen Bürgerkrieg, nach einer zweijährigen Waffenruhe flammt nun wieder neue Gewalt auf.

In Ägypten blieb der demokratische Umbruch nach dem Sturz von Langzeitpräsident Husni Mubarak nur ein Experiment. Auf den Sieg Mohammed Mursis von den Muslimbrüdern folgte im Sommer 2013 ein Militärputsch. Mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi trat ein Armeechef an die Spitze, über den Kritiker sagen, er unterdrücke sein Volk mit noch schlimmeren Methoden als zu Mubaraks Zeiten. (sda/dpa)