Seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki weiss die Menschheit um die existenzielle Gefahr, die von solchen Waffen ausgeht. Mit Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine werden die Ängste der Menschen vor der nuklearen Apokalypse immer wieder neu geweckt.
Spätestens mit den Unterstellungen Putins – die Ukraine plane einen Anschlag mit einer «schmutzigen Bombe» auf eigenem Staatsgebiet und habe den Bau einer taktischen Atombombe fast abgeschlossen – sind derartige Ängste in den Wohnzimmern von ganz Europa angekommen.
Wenn die Angst ins Leere läuft
Unter anderem spekulieren westliche Beobachter, dass Moskau mit dieser Rhetorik den Boden für einen eigenen Einsatz von Kernwaffen oder eben «schmutzigen Bomben» bereitet – eine Operation unter falscher Flagge also. Diese könnte die ganze Welt in den Abgrund reissen, wenn die nukleare Büchse der Pandora – das erste Mal seit 1945 – wieder geöffnet wird.
Ob «schmutzige Bombe» oder taktische Atombombe: Die russische Drohung mit grosser Zerstörung und jahrelanger radioaktiver Verseuchung (egal, von welcher Seite ausgelöst) macht etwas mit den Menschen: «Ganz besonders ist es Angst vor Kontrollverlust. Es geschieht etwas, was ich überhaupt nicht beeinflussen kann, was ich auch nicht verstehen kann», sagte Arno Deister, deutscher Psychiater und Professor an der Universität Kiel diese Woche in einem Interview.
Neben dem Gefühl der Angst an sich, sei Letztere auch ein umfassendes biologisches Prinzip, so Deister weiter. Der Kreislauf geht hoch, die Atmung wird schnell. Es passiere eigentlich das, was vor tausenden Jahren dazu da war, dass der Mensch «möglichst schnell weglaufen» könne. Und: «Das ist etwas, was ich genau in dieser Situation jetzt nicht kann. Deswegen läuft die Angst eigentlich ein Stück ins Leere», sagte Deister.
Auch die Psychotherapeutin Franca Cerutti bestätigte dies: «Unser Kopf kreiert Bilder und spielt uns eine mögliche Zukunft vor. Auf diese Bilder, die in unserem inneren Kino ablaufen, reagiert unser Körper mit einer Stress- und Angstsymptomatik.»
Den Schrecken zum Ziel
Doch wie soll man dann mit der Angst vor der nuklearen Katastrophe umgehen? Psychiater Arno Deister sagte, dass man zu seiner Angst stehen solle. «Ich darf Angst haben in dieser Situation. Weiterhin ist auch wichtig, die Angst mit anderen zu teilen, weil andere diese Angst auch haben.» Darüber hinaus müsse man diese Angst einordnen: «Dass wir versuchen, uns klarzumachen, was eigentlich wirklich das ist, was mich betrifft.»
Mit Blick darauf sagte die Sicherheitsexpertin Florence Gaub unlängst in einer deutschen Talkshow: «In dem Moment, wo Sie Angst kriegen, sollten Sie sich fragen: Moment, ist das vielleicht genau das, was Putin erreichen will?» Denn genau auf diese Angst in den westlichen Ländern ziele Putins Atomwaffen-Rhetorik. «Unsere eigenen Köpfe, unsere Gefühle sind Ziel von russischer Propaganda. (…) Nicht die Bombe ist die Waffe, sondern die Angst vor der Bombe ist die Waffe», sagte Gaub.
Betroffen sind die im Westen aufgeschreckten Menschen also vor allem von der russischen Propaganda. Die Analystin vom Institut der EU für Sicherheitsstudien (EUISS) stellte klar: Bereits in der russischen Militärstrategie des Jahres 2020 sei «für jeden eindeutig lesbar, dass die Androhung von nuklearen und chemischen Waffen Teil der Strategie ist».
Gaub verdeutlichte auch den strategischen Gedanken hinter den Drohungen: Was macht das mit unseren Bevölkerungen? Was macht das mit jedem Entscheidungsträger, der auch nur ein Mensch ist?» Gaub warb sodann dafür, sich nicht dem für Putin wünschenswerten Bedrohungsgefühl hinzugeben und sagte: «Dass die Welt bald zu Ende ist und wir alle in einem riesigen atomaren Krieg sterben werden, das wird nicht passieren.»