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Schweiz

Psychische Probleme, Prostitution, Liebe zu einem IS-Kämpfer: So startet der Prozess gegen die Messerstecherin von Lugano

Die Messerstecherin von Lugano zeigte am ersten Prozesstag vor Bundesstrafgericht keinerlei Reue für ihren Angriff. Sie selbst beschwor ein terroristisches Motiv.
Die Beschuldigte soll am 24. November 2020 zwei Frauen vor dem Manor in Lugano mit einem Messer angegriffen haben. (Keystone)

Gerhard Lob

Sie sprach schnell und viel, lachte zwischendurch immer wieder. Manchmal sagte sie aber auch nichts. Beispielsweise beantwortete sie die Frage nicht, mit wem sie über die Messerattacke im Warenhaus Manor im Zentrum von Lugano vorab gesprochen hatte. Zwei Personen hätten davon gewusst. Namen nennen wollte sie nicht. Klar wurde, dass sie die Tat schon länger geplant hatte. Eigentlich für den Weihnachtsabend, 24. Dezember.

Doch dann zog die heute 29-jährige Tessinerin die Attacke um einen Monat vor. Am 24. November 2020 stach sie kurz vor 14 Uhr in der Manor von Lugano auf zwei wildfremde Frauen mit einem Brotmesser ein. Dafür zeigte sie anlässlich des Prozessauftaktes vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona am gestrigen Montag keinerlei Reue. Ganz im Gegenteil. Auf die Frage, was sie heute tun würde, wenn sie an diesen Tag zurückkehren könnte, sagte sie:

«Ich würde das Gleiche machen, nur besser.»

Ganz in schwarz gekleidet erschien sie, mitsamt Kopfschleier. Doch diesen musste sie auf Geheiss der vorsitzenden Richterin Fiorenza Bergomi ablegen. «Wird die muslimische Religion hier nicht respektiert?» fragte sie dann provokativ die Richterin.

Sie wollte beweisen, dass auch Frauen ein Attentat verüben können

Selbst die Fotos von der tiefen und blutenden Schnittwunde am Hals des ersten Opfers, welche das Gericht zeigte, liessen sie kalt. «Ich fühle nichts, das macht mir keinen Eindruck.» Es waren schockierende Aussagen für das Publikum, insbesondere aber für die Frau, welche Opfer dieser Attacke wurde und als Privatklägerin im Gerichtssaal direkt hinter den Vertretern der Bundesanwaltschaft sass. Sie hatte riesiges Glück, dass der Schnitt an der Halsschlagader vorbei ging.

Zur Motivation für die Attacke erklärte die Beschuldigte, sie habe beweisen wollen, dass sie auch als Frau in der Lage sei, ein terroristisches Attentat auszuführen. Die zum Islam konvertierte Frau war vor der Tat über Facebook mit zwei syrischen Kämpfern in Kontakt, die ihr im Übrigen davon abgeraten hätten. Deren Kampf unterstützte sie ihrerseits mit rund 18’000 Franken, wie sie sagte:

«Sie sollten sich davon Essen und Waffen kaufen.»

Das Geld stammte aus ihrer illegalen Tätigkeit als Prostituierte. Sie verdiente damit rund 5000 Franken im Monat. Die Einnahmen kamen zu ihrer vollen IV-Rente hinzu, die sie aufgrund ihrer psychischen Probleme erhielt.

Schwere psychische Krankheiten und eine frühe Schwangerschaft

In der Einvernahme der Beschuldigten ergab sich das Bild einer jungen Frau, die in ihrem Leben von einer Katastrophe in die nächste geschlittert ist und unter gravierenden psychischen Problemen leidet. Bis zum Alter von sieben Jahren hatte sie epileptische Anfälle, später litt sie unter Magersucht, besuchte die Sonderschule.

Mit 17 Jahren wurde sie schwanger, mit 18 Jahren gebar sie ein Kind, das sie nicht wollte und dann von ihren Eltern adoptiert wurde. Sie heiratete den Vater des Kindes, einen afghanischen Staatsbürger; zuerst ging die Ehe gut, dann reichte sie die Scheidung ein, nachdem sie geschlagen und auch sexuell misshandelt worden war, wie sie vor Gericht erklärte. Wegen ihrer psychischen Probleme war sie häufig in Behandlung, erhielt Sozialhilfe, später wurde sie als vollständig Invalide anerkannt.

Keine Besuche in der U-Haft: Die Familie hat sich von ihr abgewendet

Zweimal wurde die Frau in das psychiatrische Spital von Mendrisio eingewiesen. Einmal zwangsweise nach ihrer Rückkehr von der türkisch-syrischen Grenze, wo sie versucht hatte, nach Syrien einzureisen, um sich den IS-Kämpfern anzuschliessen. Für das Taxi zahlte sie in der Türkei im Übrigen 2700 Euro bar auf die Hand.

Mit ihrer Familie hat sie mittlerweile vollständig gebrochen, erhält auch im Untersuchungsgefängnis keinen Besuch mehr. Am späten Vormittag hatte sie erklärt, wie sie sich durch ihren Ex-Ehemann dem Islam angenähert hatte und sich später über das Internet in einen syrischen Kämpfer verliebte. Die Videoanrufe konnten auch mehrere Stunden dauern.

Psychiater attestiert ein sehr grosses Rückfallrisiko

Am Nachmittag sagte Carlo Calanchini als Gerichtspsychiater aus. Er erklärte, dass die Schuldfähigkeit der Frau zu einem mittleren Grad eingeschränkt sei, da sie unter einer psychotischen
Störung leide, welche der Schizophrenie ähnele. Die Heilungschancen seien eher gering und das Rückfallrisiko sehr gross.

Calanchini zeigte auch die Widersprüchlichkeiten ihrer Persönlichkeit auf, welche am ersten Prozesstag klar zu Tage traten. So liess sie das grausame Attentat auf eine unbeteiligte Person selbst kalt, doch wollte sie es nicht an einem Ort verüben, wo sich allenfalls Bekannte oder ehemalige Mitschülerinnen hätten aufhalten konnten.

Der Prozess wird am Dienstag mit der Einvernahme einer weiteren Psychiaterin fortgesetzt. Nach einem Pausentag werden Anklage und Verteidigung am Donnerstag ihre Plädoyers halten. Die Bundesanwaltschaft wird dann auch ihren Strafantrag stellen.