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Grossbritannien

London versucht Flüchtlinge abzuschrecken

Grossbritannien will Migranten für die Dauer ihres Asylantrags nach Ruanda schicken. Damit versucht die konservative Regierung nach eigenen Angaben, Wirtschaftsflüchtlinge von der gefährlichen und illegalen Überfahrt über den Ärmelkanal abzuschrecken und Schleusern das Handwerk zu legen.
Bild: Keystone/PA/AP/Gareth Fuller

In der Meerenge zwischen Grossbritannien und Frankreich soll die britische Marine gegen Menschenschmuggler vorgehen, wie Premierminister Boris Johnson am Donnerstag ankündigte.

Menschenrechtler und Opposition zeigten sich empört über das "grausame und gemeine" Vorhaben. Kritiker werfen Johnson zudem vor, er wolle vor wichtigen Kommunalwahlen in England von der "Partygate"-Affäre in Downing Street ablenken.

Migranten rund 6500 Kilometer weit weg nach Ostafrika zu schicken, "wird sie kaum davon abhalten, ins Land zu kommen, sondern nur zu mehr menschlichem Leid und Chaos führen", sagte Enver Solomon vom Flüchtlingsrat Refugee Council. Er schätzt die Kosten für die Steuerzahler auf 1,4 Milliarden Pfund (rund 1,7 Mrd Franken) pro Jahr.

Auch das britische Rote Kreuz zeigte sich besorgt über die Pläne, "traumatisierte Menschen um die halbe Welt zu schicken". Die BBC nannte das Vorhaben ein "One-Way-Ticket" für einige Flüchtlinge. Medien zufolge sollen nur Männer nach Ruanda geschickt werden.

Kritiker betonen die schlechte Menschenrechtslage in dem Land, das seit 2000 von Präsident Paul Kagame autoritär regiert wird. Vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Infrastruktur wurden zwar grosse Fortschritte gemacht.

Allerdings wird Kagame vorgeworfen, Dissidenten zu verfolgen und die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. Johnson sprach von "einem der sichersten Länder der Welt". Noch vergangenes Jahr hatte London die Regierung in Kigali kritisiert, nun reiste Innenministerin Priti Patel zur Unterschrift nach Ruanda - obwohl nach Ansicht von Experten viele rechtliche Fragen offen sind.

Patels politische Karriere hängt an der Bekämpfung illegaler Einwanderung. Sie hatte angekündigt, dank des Brexits das "kaputte" Migrations- und Asylsystem zu reparieren. Strenge Visaregeln sollen nur noch die klügsten Köpfe ins Land lassen.

Doch bisher hält das die Menschen nicht ab, die Hardlinerin Patel für illegal hält. Von einer "small boat crisis", einer "Krise der kleinen Boote" ist in Grossbritannien die Rede. Im vergangenen Jahr erreichten mindestens 28 526 Flüchtlinge zumeist in kleinen Schlauchbooten die englische Küste - 2020 waren es 8404. Die Regierung fürchtet, dass es in diesem Jahr noch mehr werden - allein am Mittwoch kamen etwa 600 Menschen an.

Schon mehrmals hat Patel radikale Vorschläge gemacht, wie illegale Migration über den Ärmelkanal verhindert werden könnte: Immunität für Grenzschützer, sogenannte Pushbacks auf offener See, kein Asylrecht für illegal Einreisende, Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Doch die meisten Vorhaben hat ihr die zweite Parlamentskammer, das House of Lords, aus ihrem Gesetzentwurf herausgestrichen.

Nun will Patel zumindest das Abkommen mit Ruanda als Erfolg vorweisen - nachdem zuvor mehrere Länder und Gebiete wie Albanien und Gibraltar teils empört Berichte über entsprechende Vereinbarungen dementiert hatten. Wer in Grossbritannien auf eine Asyl-Entscheidung warten kann, soll künftig in streng kontrollierten Auffanglagern untergebracht werden.

Patel ist für Johnson von zentraler Bedeutung, um sein Brexit-Versprechen "Take Back Control" - die Kontrolle zurückerlangen - umzusetzen. Ihre Aufgabe sei, "die Bewegungsfreiheit von Menschen ein für alle Mal zu beenden", sagte die 50-Jährige einst. Als Tochter indischstämmiger Eltern, die vor Jahrzehnten aus Uganda einwanderten, ist sie für Johnson ein passendes Gesicht in der Migrationsfrage.

Für die Konservativen bedeutet Kontrolle vor allem Kontrolle über die eigenen Grenzen. Ohnehin hatte sich das Vereinigte Königreich nie am Schengen-Abkommen zum kontrollfreien Reiseverkehr beteiligt. Seit dem Brexit macht es die Regierung auch EU-Bürgern schwer, für Arbeit und Wohnen ins Land zu kommen. Doch mit dem EU-Austritt sind auch Möglichkeiten weggefallen. So hat London kein Rücknahmeabkommen mit einem EU-Staat, Verhandlungen blieben bisher ohne Ertrag.

Dass Ende November 2021 bei dem Versuch, mit einem nicht seetauglichen Gummiboot über den Ärmelkanal zu setzen, 27 Menschen starben, war auch für die britische Regierung ein Schock. Johnson sagte nun, er wolle verhindern, dass die Meerenge für noch mehr Menschen zu einem nassen Grab werde. Asylexperten hingegen fordern die Regierung auf, endlich legale Reisealternativen zu schaffen. (sda/dpa)