notifications
«Falsche Prognosen»

Kritik an ehemaliger Führung der Bundesjustiz

Die Geschäftsprüfungskommissionen werfen der ehemaligen Führung von Bundesgericht und Bundesstrafgericht vor, den Aufbau der neuen Berufungskammer in Bellinzona aus politischen Gründen und mit falschen Prognosen behindert zu haben.

Seit Jahren kommt das Bundesstrafgericht in Bellinzona nicht aus den Turbulenzen heraus. So liess das Tribunal das prestigeträchtige «Sommermärchen»-Verfahren gegen wichtige Fussballfunktionäre verjähren, es kam zu Vorwürfen von Mobbing und sexuellen Belästigungen, kurz: Bellinzona glänzte nicht gerade mit Erfolgsmeldungen.

Gebessert hat sich die Situation allerdings, seit die ehemalige Gerichtspräsidentin Sylvia Frei (SVP) nicht mehr zur Wiederwahl antrat. Sie war an der Verjährung des Fussball-Verfahrens mitschuldig war. Zur Entkrampfung beigetragen haben auch Abgänge in der Berufungskammer und im Generalsekretariat.

Wesentliche Probleme bleiben in der Berufungskammer aber ungelöst, wie die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) des Parlaments in einem Bericht schreiben. Die Berufungskammer hat seit ihrer Gründung 2019 immer wieder zu reden gegeben. Einer der wichtigsten Gründe für die Missstimmung und Querelen war jedoch ein einfacher: Der Kammer wurden von Anfang die Ressourcen vorenthalten, die sie zum korrekten Funktionieren gebraucht hätte. Der Personalbestand war viel zu klein, um die zahlreichen Prozesse vorzubereiten und durchzuführen. Grund dafür waren laut den GPK «tiefgestapelte Prognosen», die der damalige Präsident des Bundesstrafgerichts, Daniel Kipfer Fasciati (Grüne), abgegeben hat. Diese falschen Vorhersagen hatten «System und entsprachen einem politischen Kalkül; sie waren nicht bloss das Resultat von falschen Einschätzungen».

Dazu muss man wissen, dass Strafsachen in Bundesangelegenheiten – zum Beispiel Geldwäscherei oder Terrorismus – zuerst von der Strafkammer in Bellinzona abgeurteilt werden. Früher gab es nur die Möglichkeit, mit einer Beschwerde ans Bundesgericht in Lausanne zu gelangen. Dieses entscheidet aber nur auf Grund der Akten und klärt den Sachverhalt nicht neu ab. Es finden dort auch keine Prozesse statt. Eine Berufungsmöglichkeit mit der Überprüfung des Sachverhalts gab es damals in Bellinzona nicht.

In den Kantonen kommen Strafsachen vor ein Gericht erster Instanz und im Fall einer Berufung vor die zweite Instanz, oft Kantonsgericht oder Obergericht genannt. Erst danach kann Lausanne angerufen werden. Erst mit der Gründung der Berufungskammer in Bellinzona erhielt auch die Bundesstrafjustiz ihre gesetzlich vorgesehene zweite Instanz. Die Berufungskammer hält dann nochmals einen ganzen Prozess inklusive Befragungen und Zeugenaussagen ab. Wer mit dem Urteil nicht zufrieden ist, kann es ans Bundesgericht in Lausanne weiterziehen. Dort werden aber nur noch rechtliche Fragen geprüft.

Der Aufbau der Berufungskammer erfüllte somit einen gesetzlichen Auftrag. Der ehemalige Gerichtspräsident Kipfer war laut GPK-Bericht «überzeugt, der Bundesrat und das Parlament würden nur einer Minimalvariante mit möglichst wenig Aufwand zustimmen.» So sei er stets bemüht gewesen, «den Ressourcenbedarf so gering wie möglich darzustellen». Auf diesem Weg kam die Prognose zustande, dass die Berufungskammer nur elf Fälle pro Jahr zu erledigen haben werde. Schon im ersten Jahr ihres Bestehens waren es ab mit 35 Fällen fast dreimal so viel. Allein im ersten Semester dieses Jahrs gingen 18 Berufungen ein.

«Die Fehleinschätzungen der Fallzahlen und der zu niedrig veranschlagte Bedarf an Richterinnen und Richtern hatte entscheidende Konsequenzen im Hinblick auf die Planung der Organisation der Berufungsinstanz», schreiben die GPK weiter. Im Bericht wird sodann die Frage gestellt, wie Bundesrat und Parlament denn gute und tragfähige Gesetze ausarbeiten sollen, wenn ihnen die Gerichtsverwaltungen wahrheitsgetreue und aktuelle Zahlen frei von politischen Überlegungen vorenthalten.

Ihr Fett ab bekommen auch zwei ehemalige Präsidenten des Bundesgerichts in Lausanne, dessen Verwaltungskommission zugleich die Aufsichtsbehörde für Bellinzona ist. Wie die von der Öffentlichkeit versteckten Abläufe in der Bundesjustiz aber in Wirklichkeit funktionieren, zeigt das Beispiel einer Richterin der Berufungskammer. Schon kurz nach ihrer Wahl und noch Monate vor dem Start der neuen Gerichtskammer läutete Andrea Blum (SVP) angesichts des eklatanten Ressourcenmangels die Alarmglocken, als sie von einer parlamentarischen Kommission vorgeladen wurde. Dabei sprach sie die organisatorischen Mängel an, die nun auch von den GPK gerügt werden. Obwohl Parlamentskommissionen die oberste Aufsicht über die Bundesjustiz bilden, blieb die Retourkutsche des damaligen Bundesgerichtspräsidenten, Ulrich Meyer (SP), nicht lange aus. In einem Aufsichtsbericht bezichtigte er Richterin Blum 2020 der Verletzung des Amtsgeheimnisses. Die GPK sahen darin aber einen falschen Vorwurf, wie sie schon in einem früheren Bericht schrieben: Demnach sei die Feststellung im Aufsichtsbericht nicht gesetzeskonform, wonach die Übermittlung von Informationen an Parlamentarier durch einzelne Richterinnen das Amtsgeheimnis verletze. Diese doch recht heftige Rüge durch die Oberaufsicht war Meyer aber egal, er wollte der unangenehmen Richterin einfach einen Denkzettel verpassen.

Und nicht nur das: Während es noch um das Verfassen des Aufsichtsberichts ging, äusserte sich Meyer über Blum in sexistischer und abwertender Weise. Dummerweise nahm ein Mikrofon diese Bemerkungen auf, aber Folgen hatte all das nicht. Wer in der Bundesjustiz zu Recht auf Fehler und Versäumnisse der Führung hinweist, wird fertig gemacht, selbst wenn ein GPK-Bericht später feststellt, dass die Kritik absolut berechtigt war.