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Kommentar

Katar-Deprotainment: Niemand zelebriert die Unlust an der Fussball-WM so lustvoll wie die Deutschen 

Nirgendwo berauscht man sich so sehr an seiner vermeintlichen Zivilcourage wie im Land der Bedenkenträger. Doch im Zusammenspiel mit Inkonsequenz wird Moralismus unerträglich.

Als hätten sie ein Gespenst gesehen: Die deutsche Mannschaft am Mittwoch vor dem Auftaktspiel gegen Japan. 
Bild: Bild: Toto Marti / Freshfocus / Blick

Gut, hat Deutschland sein Auftaktspiel bei der Fussballweltmeisterschaft in Katar verloren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte die DFB-Mannschaft am Mittwoch gegen Japan gewonnen: Freude ist im Land der Bedenkenträger verpönt; wohl nirgendwo in Europa wird die Unlust am Wüsten-Turnier lustvoller zelebriert als in der Bundesrepublik.

Wichtiger als der Erfolg auf dem Fussballplatz ist die richtige Haltung: Nicht weniger als sechs Experten und Moderatorinnen spekulierten vor dem Spiel gegen Japan im ARD-Fernsehen darüber, was für ein «Zeichen» die Mannschaft wohl setzen werde, um ihr Missfallen über die Verhältnisse im Gastgeberland auszudrücken. Mehr als über sportliche oder politische Aspekte erfuhren die Zuschauer dabei über die Gefühle der Diskutanten. Thomas Hitzlsperger sprach von einem «übermächtigen Gegner» und meinte damit nicht etwa Japan, sondern die Fifa.

Die Ministerin gab sich mutig – und schäkerte mit Infantino

Schliesslich verzichteten die Deutschen auf das Tragen der «One Love»-Binde – aus Angst vor Sanktionen des Weltfussballverbands, wobei man sich fragen konnte, ob ihr Anliegen den Spielern tatsächlich so viel bedeutet, wie sie vorgaben: Gravierender als eine Verwarnung oder ein Ausschluss vom Spiel wären die Massnahmen der Fifa kaum ausgefallen. Das mag für einen Sportler schmerzhaft sein, erscheint jedoch verkraftbar, wenn es um eine Sache geht, die einem wirklich wichtig ist.

Anstatt die Regenbogenbinde überzustreifen, hielten die Spieler schliesslich die Hand vor den Mund, was sie aussehen liess wie grosse Kinder, die gerade ein Gespenst gesehen haben. «Uns die Binde zu verbieten, ist wie den Mund zu verbieten. Unsere Haltung steht», verkündeten sie später.

Das Tragen der Binde überliessen sie Nancy Faeser, der deutschen Innenministerin, die das Spiel vor Ort verfolgte. Für ihre Geste erhielt die Sozialdemokratin einiges Lob, so als hätte das Risiko bestanden, dass sie von der Ehrentribüne abgeführt würde. «Stark», lobte ein SPD-Nachwuchspolitiker seine Parteikollegin auf Twitter. «Wehe, irgendein Regierungsmitglied kommt auch nur auf die Idee, zu dieser WM zu fahren», hatte derselbe Mann noch zwei Tage vorher geschrieben.

Faesers Armbinde neben Adenauers Staatskarosse?

Für manche Deutsche hat die Ministerin mit ihrem Statement Historisches vollbracht: Nur wenige Stunden nach Abpfiff meldete bereits das Haus der Geschichte Ansprüche auf Faesers Armbinde an, sodass künftige Generationen das Stück neben Konrad Adenauers Dienst-Mercedes und Willy Brandts Nobelpreisurkunde betrachten könnten.

Gutes Einvernehmen? Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser und Fifa-Chef Gianni Infantino im Khalifa International Stadium in Ar Rayyan. 
Bild: Bild: Paul Chesterton/Freshfocus/Expa

Es wäre nur eine weitere Episode in einem Zirkus der Absurditäten, bei dem es mittlerweile schwer fällt, den Überblick zu bewahren: Was soll man etwa davon halten, dass sich Faeser auf der Tribüne mit Fifa-Chef Gianni Infantino recht gut zu verstehen schien? Oder davon, dass sich die ARD bei ihrem Betroffenheits-Deprotainment unter anderem von Emirates finanziell unterstützen lässt, der staatlichen Fluggesellschaft von Dubai, dessen Wertvorstellungen denen Katars näher liegen als jenen, die in Berlin-Mitte vorherrschen?

Moralismus kann ärgerlich und peinlich sein; im Zusammenspiel mit Inkonsequenz wird er unerträglich. Die vornehmlich europäischen Mannschaften, die nun ihr politisches Gewissen entdeckt haben, müssen sich fragen lassen, warum sie sich nicht für einen Boykott des Turniers entschieden haben. Was Deutschland angeht, besteht nun immerhin die reelle Chance auf einen Teilnahmeverzicht an der K.-o.-Runde. Ein Weiterkommen wäre auch kaum auszuhalten.