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Gastkommentar

Feministische Revolution im Iran: Was wir lernen können – und tun müssen

Während der helvetische Politbetrieb an Demonstrationen der Unreife leidet, mit Frustrierten nach der AHV-Abstimmungsniederlage, riskieren andernorts die Menschen ihr Leben für die Freiheit.

Frauen im Iran und anderen Teile der Welt gehen für universale Menschenrechte auf die Strasse. 
Bild: Wael Hamzeh / EPA

Derzeit wird im Iran der Kompass der eurasischen Welt neu eingestellt. Die todesmutigen Studentinnen gehen nicht für westliche Werte auf die Strasse, sondern für universale Menschenrechte, die auch ihrer mehrtausendjährigen Hochkultur entspringen. Sie sind gut gebildet und agieren differenziert – für alle anständigen Menschen im Land, gegen die korrupte Mullah-Diktatur. Mit dem Kopftuch verbrennen sie das Symbol der frauenfeindlichen Gewaltherrschaft. Die angeblich monoton fromme «Islamische Republik» ist in Wirklichkeit stark säkularisiert und vielfältig, die revolutionäre Emanzipationsbewegung will Religion und Politik trennen.

Wenn die Studenten «Frauen, Leben, Freiheit» rufen, rufen die Studentinnen «Männer, Heimat, Wohlfahrt» zurück, wobei Heimat und Wohlfahrt in einem gesamtheitlichen Sinn des Wohls und der positiven Entwicklung gemeint sind. Die Bewegung ist zur feministischen Revolution geworden und bezieht alle mit ein, Spaltungen werden vermieden, sie wären das rasche Ende.

Der Westen ist überfordert

Während im Westen der Gerechtigkeitsdiskurs mit Verirrungen kämpft und im postkolonialen Stadium des Identitären und Trennenden steckt, ist er im Iran umfassender und wesentlich weiter – im postpostkolonialen Stadium, wie der iranischstämmige Historiker Kijan Espahangizi analysiert.

Die Protestierenden denken global, geben sich aber bewusst patriotisch-nationalistisch und nehmen damit Bezug auf die lange hochkulturelle Geschichte, die wesentlich älter ist als die Islamisierung. Sie betonen damit die Einheit des iranischen Volkes im multikulturellen Land. Und sie grenzen sich so klar ab gegen die internationale Kriegstreiberei des Regimes mit seiner Terrorfinanzierung von Gaza über den Libanon bis nach Afghanistan.

Der Westen ist mit der differenzierten feministischen Revolution überfordert. Mit den Mullahs werden weiter Atomverhandlungen geführt und das Gewalt-Regime wird so legitimiert. Die finanziellen Verwicklungen sind immens, die Profiteure der Diktatur transferieren Milliarden aus dem Land und verschaffen ihren Nächsten ein Luxusleben im Westen.

Auswirkungen auf Nachbarländer noch nicht absehbar

Für die kämpfenden Iranerinnen und Iraner ist das zwar schmerzhaft, doch sie sind gut informiert und nicht naiv. Sie wissen, was der Westen zu bieten hat, und dass ihm nur bedingt vertraut werden kann. Sie gehen deshalb ihren eigenen Weg und geben ein Beispiel an höchster Zivilcourage.

Die Auswirkungen im Innern und auf die Nachbarländer sind zwar noch nicht absehbar, doch sie sind auf jeden Fall von geopolitischer Bedeutung. Alle Nachbarn haben eigene Inte­ressen in der Region und Expansionsgelüste. Die Waffen werden von China, Russland und dem Westen geliefert, finanziert mit Gas und Öl. Aserbaidschan, derzeit im Krieg mit Armenien, hat dazu 200 Tankstellen in der Schweiz.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine brennt nun das zweite Pulverfass vor der Haustüre Westeuropas. Höchste Zeit, die Kooperation mit Europa zu vertiefen und den Blick auf die Geopolitik zu schärfen. Bekanntlich ist unsere Abhängigkeit von Öl und Gas das schlimmste Gift. Darüber wird endlich intensiv diskutiert – 49 Jahre nach dem arabischen Ölboykott 1973. In anderen Bereichen muss unsere Lernkurve steiler sein. Ein Monitoring muss aufzeigen, mit welchen Ländern wir wie verbandelt sind und wie sich diese Verbindungen auswirken. Aussenpolitik muss Teil der Innenpolitik werden.

Die feministische Revolution muss dabei unsere volle Aufmerksamkeit haben. Wo bleibt die breite Solidarität? Liegt Raubgeld bei uns? Kommt die sadistische Mullahgarde IRCG wie in Kanada auf die Liste der Terrororganisationen? Wir müssen eine Plattform bieten für alle emanzipatorischen Kräfte, eine 2. Lugano-Konferenz. Wir können nach den Ukrainern ein zweites grossartiges Volk neu entdecken. Die dramatischen Umwälzungen bieten auch Chancen für Frieden und Menschenrechte, neue Partnerschaften und Prosperität, – wenn wir uns mit aller Kraft engagieren.

*Thomas Kessler ist Mitglied des publizistischen Ausschusses von CH Media, beruflich spezialisiert auf Sicherheitsfragen, Migration und Integration