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Analyse

Ein Warnschuss für Brasiliens Demokratie: Jetzt stehen vier schwierige Wochen bevor

Lula gewinnt erste Runde und ist dennoch der Verlierer. Bolsonaro und seine Partei schneiden besser ab als erwartet. Bis zum zweiten Wahlgang am 30. Oktober wird die Stimmung aufgeheizter denn je sein.

Eine Lula-Anhängerin kann es nicht glauben, dass es ihr Präsidentschaftskandidat nicht im ersten Wahlgang egschafft hat.
Bild: Fernando Bizerra / EPA

Brasiliens Linke ist jäh aus dem Traum einer schnellen und komfortablen Rückkehr an die Macht gerissen worden. Ihr Kandidat Lula da Silva gewann eine hart und harsch umkämpfte Wahl um das Präsidentenamt zwar am Ende deutlich mit fünf Prozentpunkten Vorsprung, aber die eigentliche Nachricht des Sonntags ist das unerwartet starke Abschneiden des rechtsradikalem Amtsinhabers Jair Bolsonaro.

Die Umfragen hatten Lulas Wahlsieg recht genau vorhergesagt, aber Bolsonaros Potenzial wurde stark unterschätzt. Ihn hatten die Meinungsforscher bei lediglich 36 Prozent der Stimmen verortet. Am Ende stimmten für ihn mehr als 42 Prozent der 156 Millionen Wahlberechtigten.

Nun muss Lula in der Stichwahl den Unentschlossenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die «goldenen Zeiten», als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerung deutlich besser ging als jetzt.

Der lange Schatten des Korruptionsverdachts

Lula da Silva, nach Bekanntgabe des Resultats.
Bild: Andre Penner / AP

Der 76-Jährige muss vor allem sein Wirtschaftsprogramm konkretisieren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird. Denn die Wahl hat auch gezeigt: Die Brasilianer nehmen Lula und seiner Arbeiterpartei PT noch immer die Korruption in seiner und der folgenden PT-Amtszeit unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff übel.

Bolsonaro, der trotz der Niederlage der eigentliche Gewinner ist, wird Lulas Hauptwählerschaft, die Armen und Bitterarmen, umgarnen. Das machte er am Wahlabend schon klar. Der politische Vorteil liegt nach diesem Sonntag überraschend beim Amtsinhaber. Zumal er in gewisser Weise Recht behielt mit der Kritik an den Meinungsumfragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnete.

Aber warum haben sich die traditionell zuverlässigen Umfrageinstitute so dermaßen geirrt? Experten gehen davon aus, dass es eine immense Zahl an «schweigenden» Wählern und Wählerinnen gegeben hat, die in den Umfragen ihre wahre Intention nicht preisgaben – oder sich schlicht nicht beteiligten.

Vielen wird es auch unangenehm gewesen sein zuzugeben, dass sie für einen ungehobelten, abwertenden und aggressiven Politiker stimmen wollten, der weniger mit Inhalten auf sich aufmerksam machte als damit, die halbe Welt zu beleidigen und zu bedrohen

Die Rolle der Evangelikalen

Jair Bolsonaro konnte mehr stimmen auf sich vereinigen als erwartet,
Bild: Eraldo Peres / AP

Bolsonaros Abschneiden ist umso erstaunlicher als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die grossen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-rechts-Spektrum sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss fürchten, dass ihm eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte.

Zudem muss Lula beunruhigen, dass Bolsonaros Partei PL bei den gleichzeitigen allgemeinen Wahlen viele Bewerber in Abgeordnetenhaus und Senat bringen konnte. Auch viele Gouverneure stellt seine Partei künftig. All diese Gewinner werden in den kommenden vier Wochen mächtig für Bolsonora werben.

Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzahl könnte der Vormarsch der erzkonservativen Pfingstkirchen in den vergangenen Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelikalen Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerungsschichten eingedrungen.

Aber dennoch bleibt ein Stück weit unerklärlich, wie ein Präsident mit einer derart desaströsen Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstreich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtshofs, Frauen, indigene Völker und Journalisten beleidigt, hat eine Kampagne gegen Corona-Impfstoffe geführt, während fast eine Dreiviertelmillion Brasilianerinnen und Brasilianer an Covid starben.

Und er hat das Amazonasgebiet der Gnade von Grossgrundbesitzern und Goldgräbern ausgeliefert. Insofern war der Sonntag auch ein schlechter Tag für den globalen Klimaschutz.

Die Saat des Bolsonarismus

Ganz offensichtlich ist der aggressive Diskurs des ehemaligen Fallschirmkapitäns in den vergangenen vier Jahren tiefer in die kollektive DNA der Brasilianerinnen und Brasilianer eingesickert als gedacht. Die Saat des Bolsonarismus ist in der brasilianischen Gesellschaft aufgegangen. Lula warnte bereits während des Wahlkampfs: «Wir werden Bolsonaro besiegen, aber der Bolsonarismus wird weiterleben.»

Im Moment ist nicht einmal ersteres garantiert. Das Ergebnis vom Sonntag ist somit auch ein Warnschuss für die Demokratie im grössten und wichtigsten Land Lateinamerikas.

Mitentscheidend für den 30. Oktober wird sein, ob es Bolsonaro gelingt, seine hohe Ablehnungsrate in der Bevölkerung zu verbessern. Laut Umfragen würden 52 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen niemals für den Amtsinhaber stimmen. Bei Lula liegt die Ablehnungsquote bei 40 Prozent.

Hätte vor Sonntag noch jemand daran gezweifelt, dass Brasilien ein völlig gespaltenes Land ist, dem dient das Wahlergebnis als letzter Beweis. Fast hälftig stehen sich die Brasilianerinnen und Brasilianer weitgehend unversöhnlich mit zwei völlig diametralen Visionen ihres Landes gegenüber. Zudem ist Brasilien regional gespalten.

Bolsonaros Heimspiel in den Finanzzentren, aber auch bei den Bauern

Der PT-Herausforderer siegte im armen Nordosten und auch in weiten Teilen des Amazonas. Aber im europäisch geprägten Süden und vor allem im Industrie- und Finanzzentrum São Paulo sowie in der Metropolregion Rio de Janeiro gewann Bolsonaro. Auch in den agrarisch dominierten Staaten hatte der Präsident ein Heimspiel.

Die einzig gute Nachricht des Wahltages ist, dass es erstens weitgehend ruhig blieb und dass zweitens Bolsonaro nicht die Legitimität des Ergebnisses in Frage stellte. Vielmehr zog er wie ein ganz normaler Politiker seine Schlüsse aus den Resultaten. Nach einem langen und erbittert geführten Wahlkampf, der von schwerer politischer Gewalt geprägt war, ist das immerhin ein kleiner Gewinn für die Demokratie.