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97-jährige Angeklagte

Ehemalige KZ-Sekretärin in Deutschland schuldig gesprochen

Schuldspruch nach 77 Jahren: Ein Gericht hat eine ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die Richter stellten fest, dass die 97-jährige Angeklagte von 1943 bis 1945 Beihilfe zum Mord an über 10'000 Menschen leistete.

Die 97-jährige Angeklagte wurde zu einer Jugendstrafe verurteilt, weil sie zum Tatzeitpunkt gerade erst Volljährig wurde.
Bild: Keystone

Eine ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof ist in Deutschland der Beihilfe zum Mord in über 10'000 Fällen schuldig gesprochen worden.

Das Landgericht Itzehoe verurteilte die 97-jährige Irmgard F. am Dienstag zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Nach Festellung der Strafkammer war die Angeklagte von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur von Stutthof bei Danzig (Gdansk, heute Polen) tätig.

Damit habe sie den Verantwortlichen des Konzentrationslagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet. Weil sie zur Tatzeit erst 18 bis 19 Jahre alt war, fand der Prozess vor einer Jugendkammer statt.

31 Nebenkläger, inklusive vier Stutthof-Überlebende

Mit dem Urteil entsprach das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert. Die 15 Nebenklagevertreter hatten sich zum grossen Teil der Strafforderung der Staatsanwaltschaft angeschlossen.

«Die im 98. Lebensjahr stehende Angeklagte hat ihre gerichtliche Schuldig-Sprechung wegen Beihilfe zum mehrtausendfachen Mord erhalten. Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten», erklärte Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster, der vier Stutthof-Überlebende als Nebenkläger vertrat.

Der Prozess hatte am 30. September 2021 begonnen. An den 40 Verhandlungstagen hörte das Gericht acht der zeitweise 31 Nebenkläger als Zeugen. Die Überlebenden des Lagers berichteten vom Leiden und massenhaften Sterben in Stutthof. Wichtigster Zeuge war jedoch der historische Sachverständige Stefan Hördler, der sein Gutachten in 14 Sitzungen vorstellte. Die Verteidigung hatte einen Befangenheitsantrag gegen ihn gestellt, den das Gericht aber ablehnte.

«Es tut mir leid, was alles geschehen ist»

Die Angeklagte hatte sich anfangs dem Verfahren nicht stellen wollen. Am ersten Verhandlungstag verschwand sie frühmorgens aus ihrem Seniorenheim. Die Polizei griff sie Stunden später auf einer Strasse in Hamburg auf. Das Gericht erliess einen Haftbefehl. Die damals 96-Jährige verbrachte fünf Tage in Untersuchungshaft.

Erst ganz zum Schluss des Prozesses hatte sie ihr Schweigen gebrochen. «Es tut mir leid, was alles geschehen ist», sagte sie in ihrem letzten Wort. Die 97-Jährige fügte hinzu: «Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.»

In Deutschland hatten sich in den vergangenen Jahren etliche frühere KZ-Bedienstete im weit fortgeschrittenen Alter noch vor Gericht verantworten müssen. Denn bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit hatte die deutsche Justiz über Jahrzehnte nur diejenigen verfolgt, die zur Leitung der Konzentrationslager gehört oder selbst gemordet hatten oder durch besondere Grausamkeit aufgefallen waren, sogenannte Exzesstäter.

Ein Wendepunkt war der Prozess gegen den früheren Wachmann John Demjanjuk, der 2011 wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen verurteilt wurde. Heutzutage wird auch die allgemeine Dienstausübung in einem Lager, in dem erkennbar systematische Massenmorde stattfanden, juristisch geahndet. (dpa)