notifications
Ausnahmezustand 

Der Kopftuch-Funke wird im Iran zum Flächenbrand – und hat auch den Präsidenten erreicht

Iran im Ausnahmezustand: Die Menschen demonstrieren wegen des Tods einer 22-Jährigen. Derweilen will der iranische Präsident, dass eine Frau in Amerika ein Kopftuch trägt.

Mahsa Amini starb am 16. September 2022. Ihr Tod war der Funke, der in Iran ein landesweites Feuer entfachte.

Heute stehen im vorderasiatischen Land Männer Schulter an Schulter mit Frauen, die ihr Kopftuch abgenommen haben und sich so strafbar machen. Zusammen skandieren sie Slogans wie «Frau, Leben, Freiheit» oder «Tod dem Diktator». Ihnen gegenüber stehen bewaffneten Sicherheitskräfte, die nicht vor Gewalt zurückschrecken.

Das Feuer schwelt schon länger: Seit Mai wird in Iran gegen die Untätigkeit der Regierung im Kampf gegen die anhaltende Wirtschaftskrise protestiert. Prominente Aktivisten wurden bereits verhaftet. Doch Aminis Tod treibt die Menschen jetzt in Scharen auf die Strassen.

Der Auslöser des Flächenbrands – Mahsa Aminis Tod

Mahsa Amini war drei Tage vor ihrem Tod von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen worden. Der Grund der Festnahme: Die 22-jährige Iranerin kurdischer Abstammung hatte die strenge Kleiderordnung, die seit kurz nach der islamischen Revolution von 1979 für Frauen verbindlich ist, nicht korrekt umgesetzt.

Die genauen Todesumstände Aminis sind nach wie vor ungeklärt. Klar ist nur: Zwei Stunden nach ihrer Festnahme wurde sie in ein Krankenhaus eingeliefert. Und vor ihrem Tod lag Amini im Koma.

Mahsa Amini auf einem Protestplakat eines Demonstranten vor der iranischen Botschaft in Berlin, 20. September 2022.
Bild: Keystone

Die Teheraner Polizei sagt, dass Amini zusammen mit anderen Frauen «über die Regeln belehrt» worden war, als sie aufgrund eines ganz plötzlich auftretenden Herzproblem sofort ins Krankenhaus gebracht werden musste – zwei Stunden nach ihrer Festnahme.

Hingegen werfen Menschenrechtsorganisationen der Polizei vor, die junge Frau gefoltert und anderweitig misshandelt zu haben. Diese Aussage wird untermauert von CT-Scans, die mutmasslich von Amini stammen. Veröffentlicht hatte die Scans der in London basierte und renommierte Sender «Iran International», welche die Dokumente von einer aktivistischen Hackergruppe zugespielt bekommen hatte.

Fachpersonen, die die CT-Scans für «Iran International» interpretierten, gehen aufgrund der Bilder von einem Schädel-Hirn-Trauma aus – also einer Schädigung des Hirns durch äussere Krafteinwirkungen. Diese Annahmen werden auch durch Aussagen von Spitalmitarbeitenden gestützt, die Amini in ihren letzten Stunden versorgt haben.

Präsident Ebrahim Raisi wies den Innenminister an, eine Untersuchung des Falles einzuleiten. Doch das reicht den Frauen und Männern in Iran nicht. Sie brüllen gegen die Unterdrückung der Frauen an und demonstrieren im ganzen Land.

Frauenrechte in Iran

Die rechtliche Lage von Frauen in Iran ist im internationalen Vergleich desaströs. Das liegt vor allem daran, dass in der ohnehin traditionell patriarchischen Gesellschaft der Islamischen Republik Iran seit 1979 die Scharia von den (ausschliesslich männlichen) Staatsoberhäuptern als Grundlage für das Rechtssystem herangezogen wird.

Ali Chamenei, der «Oberster Führer» des Iran seit 1989. Er ist das politische und religiöse Oberhaupt. Er ist die höchste geistliche Instanz und trägt den Ehrentitel Ajatollah. Er ist der Oberbefehlshaber der iranischen Streitkräfte.
Bild: Keystone

Die Scharia ist nicht nur Grundlage des Rechts, sondern regelt auch das alltägliche Leben, weshalb Frauen sowohl im privaten als auch im beruflichen und öffentlichen Kontext gegenüber Männern benachteiligt sind. So ist häusliche Gewalt zum Beispiel erlaubt – sofern sie vom Mann ausgeht. Weiter dürfen Frauen nicht verreisen ohne die Bewilligung eines Mannes (oder im Falle von Sportlerinnen des Staates). Und wehren können sie sich vor Gericht auch kaum, denn ihre Aussage zählt dort nur halb soviel, wie die eines Mannes.

Im öffentlichen Raum müssen Mädchen ab der Grundschule ihr Haar und ihren Hals mit einem Kopftuch bedecken und einen weiten Mantel über ihrer Kleidung tragen – das gilt für Frauen aller Nationalitäten und Religionen, die sich in Iran aufhalten. Dass die Kleiderordnung auch umgesetzt wird, dafür sorgt die Sittenpolizei. Bei Widerhandlung drohen Gefängnisstrafen und Peitschenhiebe.

Doch der Unmut gegen diese strengen Kleidervorschriften wird in gewissen Kreisen immer grösser. Im Laufe der letzten Jahre haben besonders die Frauen in den Städten damit begonnen, gerade das Kopftuchverbot grosszügig auszulegen, indem sie den Schleier weit nach hinten schieben.

Zwei Frauen in Iran, Teheran 19. September 2022.
Bild: Keystone

Die Rolle des Internets bei den aktuellen Protesten

Der bislang symbolhafteste Protest gegen die Kleidervorschriften fand 2017 statt: Junge Frauen tauchten auf. Kletterten im öffentlichen Raum auf exponierte Objekte, standen mitten auf belebten Platz oder auf Kreuzung – und nahmen ihr Kopftuch ab.

Die Demonstrantinnen waren bei weitem keine Masse, aber sie machten Selfies oder wurden von Passanten fotografiert und gefilmt. Die Bilder landeten in den sozialen Netzwerken. Und dort verbreiteten sie sich millionenfach. Frauen, die stumm ihr Kopftuch in die Höhe halten – ein Dorn im Auge des Regimes.

Und so wurden die leisen Demonstrantinnen festgenommen – ihnen drohten Gefängnis und Peitschenhieben. Eine Frau kam nur wieder frei, weil tausende Iraner sich im Internet mit ihr solidarisiert hatten, wie die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh sagt.

Dieses Bild wurde zum Symbol der Proteste von 2017. Eine junge Frau in Teheran stieg auf einen Stromverteilerkaste und schwenkte ihren Hijab an einem Stock. Sie wurde zwar verhaftet, kam aber wieder frei.
Bild: Twitter @kiansharifi

Seit dieser Protestwelle greift die Regierung hart durch, sobald sich Widerstand anbahnt. Besonders brutal regulierten sie die Bevölkerung bei Protesten 2019 als über 1000 Menschen getötet wurden, wie die iranisch-amerikanische Journalistin und Frauenrechts-Aktivistin Masih Alinejad schätzt.

Perfide dabei: Die Regierung stellt jeweils das Internet ab oder schränkt es ein, damit sich die Bilder des Unmuts und vor allem die Bilder der Gewalt, die die Polizei systematisch gegen die Demonstrierenden anwendet, nicht verbreiten, wie Alinejad kritisiert. Je weniger Internet, desto härter die Gewalt scheint die Devise zu sein.

Das wurde auch während der letzten Tage so gehandhabt, als das Feuer der Frustration in Iran loderte und Tausende wegen des Todes von Masha Amini und des repressiven Kurses der Regierung durch die Strassen zogen. Iranische Nachrichtenportale, die über die Proteste berichtet hatten, sind von der Schweiz aus nicht mehr erreichbar.

Und so sind die Menschen in Iran aktuell zwar laut, aber trotzdem auf stumm geschaltet — voneinander und von der Welt abgeschnitten.

Trotzdem fanden auch heuer vereinzelt Videos von misshandelten oder zu Tode geprügelten Menschen ihren Weg auf die sozialen Medien. Auf nicht verifizierbaren Videos sieht man, wie mit scharfer Munition auf die Menge von Demonstrierenden geschossen wird. Mindestens 17 Tote hat die Regierung mittlerweile bestätigt, berichtete das Staatsfernsehen am Donnerstag.

Auch Instagram, eines der letzten freien sozialen Netzwerke, scheint seit Mittwoch gesperrt. Denn dort kursierten während der letzten Tage Videos, die zeigen, wie sich Frauen aus Protest die Haare abschneiden und ihre Hijabs verbrennen.

Ebrahim Raisi und das Kopftuch in New York

Während seine Landsleute für ihre Rechte und gegen die Regierung kämpfen, weilt der erzkonservative iranische Präsident, Ebrahim Raisi, zum ersten Mal an der UN-Vollversammlung in New York – obwohl er auf einer Sanktionsliste steht.

Kaum in Amerika, löste ein aufgezeichnetes Interview mit dem Sender CBS auch schon den ersten Skandal aus, da Raisi den Holocaust leugnete: «Egal, was Historiker zu diesem Thema sagen, die Geschichte kann in dieser Angelegenheit nicht geleugnet werden.»

Und heute folgte der nächste Skandal, der angesichts der Proteste in seinem Land besonders bitter ist: Christiane Amanpour, eine der renommiertesten Korrespondentin des US-Senders CNN, twitterte, dass sie am Rande der UN-Vollversammlung ein Interview mit Raisi vereinbart hätte. Der Präsident sei aber nicht zum vereinbarten Termin erschienen. Stattdessen habe ein Mitarbeiter Raisis ihr mitgeteilt, dass die Journalistin doch bitte ein Kopftuch tragen solle, wenn sie den Präsidenten interviewen wollen – und zwar als Zeichen des Respekts. Amanpour hat abgelehnt.

In Iran ist der Hijab eines der sichtbarsten Zeichen der Unterdrückung von Frauen. Und zurzeit ist er dort immer noch mehr wert, als ein Frauenleben.