Nadja Rohner
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«Ich erwarte, dass Bundesrätin Simonetta Sommaruga dies jetzt zur Chefsache erklärt und sich mit der Rolle des Bundesamts für Zivilluftfahrt (Bazl) in diesem Fall auseinandersetzt.» - Das sagt die Zürcher SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf in der «SonntagsZeitung». Mit «diesem Fall» meint sie den Absturz der «Tante Ju», einer historischen Junkers Ju-52, am 4. August 2018 nahe des Piz Segnas (GR). Das Unglück forderte 20 Tote: Zwei Piloten, eine Flugbegleiterin und 17 zahlende Passagiere, die einen Wochenendtrip ins Tessin gebucht hatten.
Unmittelbar, so kam die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) zum Schluss, ist der Absturz auf massive Fehler der beiden Piloten zurückzuführen. Die ehemaligen Militär- und Linienpiloten waren zu langsam und zu tief geflogen. Und nicht nur sie – Piloten der Betreibergesellschaft Ju-Air, besonders jene mit Luftwaffen-Vergangenheit, hatten über viele Jahre systematisch Regeln nicht befolgt. Auch war das Flugzeug baulich in einem bedenklichen Zustand. Und weil auch Ersatzteile von unlizenzierten Werkstätten hergestellt worden waren, bezeichnete es die Sust als «weder formell noch materiell lufttüchtig».
Bisher wenig politische Resonanz
Mittlerweile sind zwei Wochen vergangen seit Publikation des Schlussberichts. Abgesehen von Priska Seiler Graf haben bisher erstaunlich wenige Politiker Aufklärung oder Konsequenzen gefordert. Auch die Piloten unter den Bundespolitikern üben sich in Zurückhaltung. Warten sie den Bericht des Nationalen Luft- und Raumfahrtsinstituts der Niederlande ab, das im Auftrag des Bundes derzeit das Bazl unter die Lupe nimmt?
Die Sust hat den Unglücksfall in ungefähr 3200 Arbeitstagen (kumuliert) akribisch aufgearbeitet. Die Kosten belaufen sich bislang auf rund 3,8 Millionen, es seien aber noch nicht alle Rechnungen bezahlt, sagt Untersuchungsleiter Daniel Knecht.
Der Bericht umfasst mehrere hundert Seiten. Zündstoff enthält vor allem der Anhang Nummer 17. Er dürfte auch für die Bundesanwaltschaft von Interesse sein, die von Amtes wegen schon direkt nach dem Absturz ein Strafverfahren eröffnet hat (für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung).
In diesem Anhang 17 ist ersichtlich, dass sich ein schlimmer Unfall längst angebahnt hatte. Die Sust rekonstruierte nämlich in den letzten zweieinhalb Jahren nicht nur den Absturz von 2018, sondern nachträglich auch noch rund 200 weitere sicherheitsrelevante Ereignisse. Viele wurden von Seiten der Ju-Air entweder nicht erfasst oder dann nicht beim Bazl (der Aufsichtsstelle) und der Sust gemeldet. Dabei wäre dies klar vorgeschrieben. Und wenn doch etwas gemeldet wurde – mitunter nicht von der Ju-Air selber, sondern von Dritten -, dann versandete es sehr oft beim Bazl.
Kommandant verbot Passagier das Filmen, als er in die Wolken flug
Zwei solcher Zwischenfälle sind besonders bemerkenswert. Sie lassen erahnen, mit welcher Haltung die Verantwortlichen bei der Ju-Air Sicherheitsrisiken begegneten.
Am 23. September 2011 startete ein Schwesterflugzeug der späteren Unglücksmaschine, die HB-HOP, zu einem Flug von Dübendorf nach Sion. Wie immer flog man nach Sichtflugregeln, etwas anderes war gar nicht erlaubt. Das bedeutet unter anderem, dass die Jus nicht in Wolken fliegen dürfen. Doch nach dem Greifensee steuerte der Pilot die Maschine in den Nebel. Dort flog er verbotenerweise «längere Zeit», so die Sust. Der Kommandant untersagte währenddessen mehrfach einem im Cockpit stehenden Passagier, zu filmen – obwohl das sonst gang und gäbe war auf den Ju-Passagierflügen. Viele der Videos werden ins Internet gestellt und geteilt. Wollte der Pilot das verhindern?
Fakt ist: Unmittelbar erfuhr kaum jemand von dieser verbotenen Flugsequenz. Aber ein halbes Jahr später kam es mit derselben Besatzung zu einer ähnlichen Situation: Der Kommandant steuerte die HB-HOS über dem Mutschellen in geringer Flughöhe in dichte Wolken. Erst in Wohlen kam sie wieder raus. Nun wurde es dem Co-Piloten, der zwar wie der Kommandant Linienpilot, aber im Gegensatz zu diesem kein Militärpilot war, zu bunt: Er weigerte sich, zwei weitere geplante Rundflüge am selben Tag mit diesem Kommandanten anzutreten. Weniger Bedenken hatte da ein anderer, der spontan einsprang: Jener Mann, der später beim Absturz am Piz Segnas Co-Pilot war. Auch er ehemaliger Militärpilot.
Whistleblower durfte nicht mehr fliegen
Der offensichtlich besorgte erste Co-Pilot meldete die Regelverstösse Ju-intern und, als er länger keine Antwort erhielt, auch noch beim Bazl. Dort versandete die Mitteilung: Die Sust fand in den Akten des Bundesamts keinerlei Aufzeichnungen dazu. Der Whistleblower-Pilot musste stattdessen bei der Ju-Air antraben – zu einem Gespräch mit dem fehlbaren Kommandanten und weiteren Kaderpiloten der Airline. Anlässlich dieses Gesprächs wurde dem Co-Piloten eröffnet, dass er ab sofort bei Ju-Air nicht mehr als Pilot eingesetzt werde, schreibt die Sust. Und sie konstatiert: «Der Sust sind keine Massnahmen zur Verbesserung der Flugsicherheit bekannt, die Ju-Air oder das Bazl nach dem Ereignis ergriffen.»
Sie flogen vor den Augen des Bazl zu tief über den Flughafen Zürich
Zu einem weiteren bedenklichen Vorfall kam es am 4. April 2013 – ausgerechnet im Rahmen eines Fluges, bei dem ein Prüfungsexperte des Bazl zusammen mit zwei Ju-Piloten unterwegs war. Beim Flug vom Birrfeld nach Dübendorf erhielt die HB-HOP vom Tower des Flughafens Zürich die Erlaubnis, die dortige Piste 10 in niedriger Höhe zu überfliegen. Die Piloten drehten dann aber derart ab, dass sie auch das Vorfeld sowie die Flughafengebäude überflogen. Zufällig waren Mitglieder der Bazl-Chefetage beim Flughafen zugegen. Sie sahen den zu tiefen Überflug mit eigenen Augen, ebenso die Flughafen-Geschäftsleitung. Das Ereignis wurde als «Gefährdung für Personen, Flugzeuge und Gebäude» deklariert.
Das Bazl erliess keine Verfügung. Aber wenige Wochen später vereinbarten Ju-Air, der Flughafen Zürich AG und Skyguide, dass mit Ju-52 keine tiefen Überflüge über den Flughafen mehr gemacht werden dürfen. Die Einsicht bei Ju-Air hielt sich indes in Grenzen, denn im Infoschreiben an ihre Piloten liessen sich die Verantwortlichen der Airline zum saloppen Schlusswort hinreissen: «Ein Stück Freude mehr, die dem Sicherheits- Gefahren- und Mitigations-Gespenst zum Opfer fällt.»
Verstösse wurden nur selten geahndet
Als Flugzeuge der Ju-Air 2014 viermal zu tief über das «Basel Tattoo» flogen, wurden die Kommandanten vom Bazl mit 300 bis 400 Franken gebüsst. Die Airline übernahm die Rechnung. Genauso die Busse für einen Kommandanten, der 2017 zu tief über die Stadt Zürich flog. Das sind zwei der wenigen im Sust-Bericht dokumentierten Fälle, bei dem Fehlverhalten der Piloten strafrechtliche Konsequenzen hatte.
Die Sust zeigt auch zahlreiche Luftraumverletzungen durch Ju-Air-Flugzeuge auf, die allesamt von den jeweiligen Flugsicherungsunternehmen gemeldet wurden. Sie betrafen den Flugplatz Buochs, die Militärflugplätze Alpnach und Emmen, den Flughafen Zürich. Und auch international gab es Probleme: 2010 verletzte ein Flugzeug der Ju-Air den Luftraum über einem US-amerikanischen Truppenübungsplatz und Artillerieschiessgebiet in Deutschland. 2015 flog einer der späteren Crash-Piloten unerlaubt in den Luftraum über dem Münchner Oktoberfest.
Eigentlich muss das Bazl Luftraumverletzungen ahnden. In der Regel gibt es eine Busse. Und der Pilot riskiert seine Fluglizenz. Ob bei den im Sust-Bericht festgehaltenen Fällen irgendwelche Sanktionen ausgesprochen wurden, ist unklar. «Das Bazl konnte nicht darlegen, wie es in der Folge mit der Meldung umging und welche Konsequenzen sich daraus ergaben», schrieb die Sust in ihrem Bericht mehrfach.
Meldung an Bazl entsprach nicht den Tatsachen
Manchmal wurde dem Bazl auch nicht die ganze Wahrheit aufgetischt. 22. Juli 2006, Oberschleissheim (D): Beim Rollen vor einem Flug fing der rechte Motor der Ju Feuer. Das Flugzeug wurde evakuiert und durch die Feuerwehr gelöscht. Der Pilot hatte aber vergessen, den Feuerlöschknopf zu betätigen, weil er sich nicht an die Checkliste für solche Fälle hielt. Ju-Air meldete das Ereignis weder der deutschen noch der schweizerischen Flugunfalluntersuchungsstellen, sondern schrieb lediglich in einem Mail ans Bazl, der Brand sei «gemäss Checkliste für Notverfahren erfolgreich gelöscht» worden.
Flugplatz-Sicherheit nicht immer gegeben
Bemerkenswert ist auch, was sich auf dem Flugplatz Dübendorf, der Heimstätte der Ju-Air, alles abgespielt hatte. Zum Beispiel am 7. Mai 2005: Im Zusammenhang mit dem Motorradanlass «Love Ride» waren fremde Fahrzeuge auf dem Flugplatz unterwegs. Ein Bus kam «unangenehm» nahe an ein rollendes Flugzeug. Und ein Gabelstapler überquerte die Piste, während sich die HB-HOS im Endanflug befand. Das hätte leicht schief gehen können.
Oder dann am 22. März 2013: Beim Endanflug auf Dübendorf in der Abenddämmerung stellten die Piloten überrascht fest, dass die avisierte erste Hälfte der Piste mit Pylonen übersät war – weil hier am Folgetag ein Fahrtraining der Kantonspolizei stattfinden würde. Das hatte den Piloten niemand gesagt. Sie schafften es, in der zweiten Hälfte zu landen. Der Sust wurde das nicht gemeldet.
Bazl lockerte Aufsichtstätigkeit trotz Problemen
Zu einem weiteren Vorfall kam es am 5. Mai 2012: Auf dem Flugplatz fand ein Fest statt. Die Piste war deshalb von 2,4 auf 1,4 Kilometer verkürzt, der gesperrte Teil mit Hindernissen belegt. Trotzdem landete eine Ju – allerdings setzte sie spät auf und musste eine Vollbremsung hinlegen, um nicht in die Hindernisse zu brettern. Der rechte Reifen zerlegte sich, das Flugzeug kam von der Piste ab. Die Ju-Air untersuchte den Fall intern. Abschliessend hielt der Chefpilot fest: Pilotenfehler, fehlendes Interventionsverhalten des Co-Piloten. Auch das Bazl – nicht aber die Sust – wurde informiert. Erstaunlicherweise attestierte das Bundesamt der Ju-Air wenig später ein gutes «Crew Resource Management» (vereinfacht gesagt: eine gute Teamarbeit im Cockpit) und beschloss basierend darauf, die Aufsichtstätigkeiten zu lockern.
Die Sust führt noch einen weiteren Fall an, bei dem die Ju-Air mit sich strenger war als das Bazl als Aufsichtsbehörde: Bei einem Prüfflug im April 2017 mit einem Bazl-Inspektor an Bord wurde kurz nach dem Abheben in geringer Höhe ein Motorausfall simuliert. Das Flugzeug brach zur Seite aus, konnte aber durch Eingreifen des Prüfers gerettet werden. «Nach Angaben von Ju-Air sei das Verlassen der Pistenachse von allen Beteiligten als tolerabel empfunden worden», schreibt die Sust. Der Bazl-Inspektor vermerkte in seinem Bericht kein Wort über den Vorfall. Ärger hab es dafür innerhalb der Ju-Führung, die die interne Anweisung gab, künftig «solchen Unsinn in der Nähe des Bodens zu vermeiden»: «Wir wollen keinen Unfall!»
Wie mit technischen Problemen umgegangen wurde
Dann gab es auch technische Zwischenfälle, die nicht dem Bazl gemeldet wurden. Zum Beispiel am 26. März 2010: Beim Anlassen des linken Motors traten plötzlich Flammen aus, erloschen aber durch den Propellerwind wieder. Die Piloten vermuteten einen Vergaserbrand und entschieden, trotzdem zu fliegen. Am 5. Juli 2015 war die HB-HOP in Oberschleissheim und setzte zu einem Rundflug mit Passagieren an. Da zeigte sich ein Defekt an der Geschwindigkeitsanzeige. Der Rundflug wurde durchgezogen. Nach der Landung versuchte man, das Problem zu beheben. Das gelang nicht, sodass immerhin der Start zum zweiten Rundflug abgebrochen wurde. Allerdings flogen die Piloten die Maschine zurück nach Dübendorf. Am nächsten Tag wurde sie, immer noch mit defekten Geschwindigkeitsanzeigen, erneut 13 Minuten geflogen.
Gefährliche Annäherungen in der Luft
Die Sust hatte vor dem Unglück vom August 2018 mangels Meldungen nur selten mit der Ju-Air zu tun. Eine Ausnahme bildete eine gefährliche Situation in der Region Pfiiffegg (SZ) am 16. Juli 2016: Eine Ju und ein Deltasegler kamen sich gefährlich nahe. Der Ju-Pilot wollte das nicht bemerkt haben, der Deltaflieger sehr wohl. Als er auf eine E-Mail an Ju-Air keine Antwort erhielt, wandte er sich ans Bazl.
Die Sust untersuchte den Vorfall und drückte in ihrem Bericht Unverständnis darüber aus, dass ein Flugzeug, das regelmässig gewerbliche Rundflüge mit bis zu 20 Personen an Bord durchführt, kein Kollisionswarngerät hat. Ju-Air hielt intern fest, man setze weiterhin «auf den direkten Sichtkontakt». Und das, «obwohl die Piloten der HB-HOP in diesem Fall den Hängegleiter nicht gesehen hatten», konstatiert die Sust. Schon im August 2014 kam es im Tessin zu einer gefährlichen Annäherung zwischen einer Ju und einem Heli, die vom Helikopterunternehmen ordnungsgemäss gemeldet wurde.
Der Sust-Schlussbericht erwähnt auch, bei welchen der Regelverstösse und sonstiger Zwischenfälle die beiden späteren Unglückspiloten beteiligt waren. Einer ereignete sich einen knappen Monat vor dem Absturz: Die Besatzung flog mit dem später abgestürzten Flugzeug in nur etwa 120 Metern Höhe über die Stadt München. Mindestflughöhe: 300 Meter. Der Kommandant trug beim Absturz am 4. August 2018 einen Brief der deutschen Behörden zu diesem Vorfall auf sich.
In einer Medienmitteilung nach Publikation des Schlussberichts schrieb die derzeit gegroundete Ju-Air, sie werde die Lehren aus dem Unfall in den künftigen Betrieb einfliessen lassen. Der Bazl-Direktor sagte im Schweizer Fernsehen, es sei Fakt, dass die Aufsicht seines Amts über die Ju-Air "ungenügend" gewesen sei.