notifications
Schweiz

Umstrittenes Einkaufsverbot im Tessin: «Senioren, bitte draussen bleiben!»

Im Tessin dürfen über 65-Jährige wegen des Coronavirus nicht in Lebensmittelläden einkaufen. Ein bekannter Anwalt spricht von einer illegalen Massnahme. Bern zögert mit einer Reaktion.
Über 65-Jährige müssen im Tessin draussen bleiben. (Bild: Gerhard Lob)

Gerhard Lob

Der Tessiner Trompeter und Unternehmer Franco Ambrosetti machte diese Woche seinem Ärger so richtig Luft. «Dieses Verbot ist eine Demütigung - eine Beleidigung der Intelligenz», schrieb der 78-Jährige in der Tageszeitung „Corriere del Ticino“ über den Entscheid des Staatsrats, den über 65-Jährigen ein Einkaufsverbot zu verordnen. Notabene: Es handelt sich nicht um eine Empfehlung, sondern um ein explizites Verbot. Verstösse können mit einer Ordnungsbusse von bis zu 100 Franken geahndet werden.

Die Massnahme wurde von der Kantonsregierung im Rahmen der Covid-Notfalldekrete gegen die Ausbreitung des Virus eingeführt, da offenbar eine Ansteckung mit dem Coronavirus bei dieser Personengruppe besonders verbreitet ist. Doch genau bei dieser Altersgruppe kommt das Verbot schlecht an. „Es stellte eine Diskriminierung dar und muss aufgehoben werden“, fordert der bekannte Anwalt Mario Molo (72).

Er sieht gleich mehrere Grundrechte verletzt, wie die Bewegungsfreiheit und der Schutz der Privatsphäre. Denn den Geschäften oder Sicherheitsdiensten, die nun an den Eingängen patrouillieren, wird per Dekret das Recht eingeräumt, Ausweise zu verlangen und das Alter zu kontrollieren. Er verweist zudem auf eine Verletzung der Rechtsgleichheit, die im Artikel 8 der Bundesverfassung festgehalten ist. Demnach darf niemand wegen seines Alters diskriminiert werden.

Der Kanton Tessin geht mit dieser Massnahme über die vom Bundesrat erlassenen Bestimmungen hinaus, genauso wie er es bei der Schliessung der Baustellen und weiter Teile der Wirtschaft gemacht hat. Während der Bundesrat allerdings durch eine „Lex Ticino“ das Vorpreschen der Tessiner in diesem Bereich im Nachhinein legalisiert hat, ist ein solcher Schritt in Bezug auf das Verkaufsverbot für die Altersgruppe Over65 ausgeblieben. Den Kanton Uri hingegen hat man in Bezug auf das allgemeine Ausgangsverbot für über 65-Jährige zurückgepfiffen.

Massnahme wird vermutlich verlängert

In Bern versucht man offenbar, dem Thema aus dem Weg zu gehen. «Uns ist die Problematik bekannt», sagte gestern Daniel Koch, Covid-19-Delegierter des Bundesamtes für Gesundheitsweisen (BAG), während der bundesrätlichen Medienkonferenz in Bern auf eine explizite Frage dieser Zeitung. Man werde diese Frage in den nächsten Tagen klären.

Das Verbot im Tessin gilt im Rahmen der Notfallverordnung zunächst bis nächsten Sonntag. Doch kann man davon ausgehen, dass der Tessiner Regierungsrat diese Massnahme verlängern wird, wie der Tessiner Gesundheitsdirektor Raffaele De Rosa am Nachmittag im Rahmen einer Medienkonferenz erklärte. Er wiederholte, dass das Einkaufsverbot für die Gruppe Over65 eine sanitäre Massnahme sei, welche die betroffene Altersgruppe und das gesamte Gesundheitssystem schütze. «Auf die rechtliche Dynamik dieses Entscheids wollen wir nicht eintreten», erwiderte er auf Fragen zur legalen Basis der Verordnung.

Anwalt Molo hat jedenfalls kein Verständnis und doppelt nach: «Mein Bruder ist Arzt und arbeitet mit 68 Jahren im Spital, darf aber nach Dienstschluss nicht einkaufen – das ist doch paradox.» Er hofft darauf, dass die Regierung einlenkt und eventuell die Möglichkeit von Zeitfenstern für den Einkauf durch ältere Menschen einräumt – im Rahmen der hygienischen Bestimmungen und Sicherheitsabstände. Falls nicht, erwägt er, das Dekret im Falle einer Verlängerung vor Verwaltungsgericht anzufechten. Dies will auch Giorgio Ghiringhelli tun, der als Urheber der Anti-Burka-Initiative bekannt ist. Allerdings ist zweifelhaft, ob dieser rechtliche Schritt etwas bringen wird. Denn bis das Verwaltungsgericht entschieden hat, dürfte viel Zeit vergehen. Und eine aufschiebende Wirkung haben die Beschwerden nicht.