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Schweiz

Drei Wochen Notstand in der Schweiz: Was wir bisher über das Coronavirus wissen – und was noch nicht

Am 13. März beschloss der Bundesrat, alle Schulen zu schliessen, drei Tage später erklärte er die «ausserordentliche Lage» – auch Geschäfte und Restaurants machten dicht. Nun beantworten wir die drängendsten Fragen zu Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.

Maja Briner, Othmar von Matt, Gabriela Jordan, Daniel Zulauf, Niklaus Vontobel, Stefan Ehrbar und Bruno Knellwolf

Maja Briner, Othmar von Matt, Gabriela Jordan, Daniel Zulauf, Niklaus Vontobel, Stefan Ehrbar und Bruno Knellwolf

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Politik: Hohe Fallzahl und Streit um Exit aus dem Notstand

Wie lange dauern die Notstandsregeln und Einschränkungen noch?

Einiges deutet darauf hin, dass der Lockdown noch bis Mitte Mai dauert. An der Medienkonferenz vom Freitag betonte Gesundheitsminister Alain Berset, China habe zwei Monate benötigt, bis es sein striktes Regime leicht habe lockern können. Für die Schweiz hiesse das: Am 16. März hatte der Bundesrat die ausserordentliche Lage erklärt. Zwei Monate später, Mitte Mai, gäbe es erste Lockerungen. Trotz der offiziellen Durchhalteparolen: Im Bundesrat mehren sich die Stimmen, welche den Stillstand der Wirtschaft überwinden wollen. Dem Vernehmen nach wirken die beiden SVP-Magistraten Ueli Maurer und Guy Parmelin darauf hin. Aus diesem Grund hat der Bundesrat am Freitag auch keinen Entscheid zur Unterstützung von Kitas gefällt. Der «Tages Anzeiger» berichtete, dass Finanzminister Maurer nicht auch noch diesen Bereich per Notrecht regeln wollte. Dieses Argumentation fand eine Mehrheit. Aus dem gleichen Grund verschob der Bundesrat am Samstag auch den Entscheid zur Unterstützung von Medien, wie diese Zeitung aus gut unterrichteten Quellen weiss.

Wie positionieren sich die Parteien?

«Einer für alle, alle für einen» heisst die Inschrift in der Kuppel des Bundeshauses: In Anlehnung daran stellten sich am 16. März alle Parteien in einem gemeinsamen Communiqué hinter den Beschluss des Bundesrats, die ausserordentliche Lage auszurufen. Diese Einmütigkeit ist mittlerweile Geschichte: Die SVP fordert den schrittweisen Ausstieg aus dem Lockdown. Und die FDP will einen Exit-Plan.

Wie einig ist sich der Bundesrat?

Hinter den Kulissen gibt es grössere Spannungen, als es nach aussen hin den Anschein macht. Zu Beginn der Krise mussten die SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Ueli Mauer ins Boot geholt werden. Parmelins erstes Hilfspaket überzeugte das Gremium nicht. Maurer war gemäss NZZ der Einzige, der sich gegen Einschränkungen des öffentlichen Lebens wehrte. Der Bundesrat hatte stark um eine Position zur Ausgangssperre gerungen, die Massnahmen werden nun loyal von allen Mitgliedern mitgetragen. Allerdings ist die Diskussion um eine Lockerung der Massnahmen im Gang. Wie CH Media aus zwei verschiedenen Quellen weiss, hat der Bundesrat am Dienstag nach Ostern eine Klausurtagung geplant. Dem Vernehmen nach wird dann auch über eine Exit-Strategie diskutiert.

Wie weit kann der Bundesrat im Lockdown gehen?

Die ausserordentliche Lage nach Epidemiengesetz gründet auf Notrecht. Der Bundesrat kann «für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen». Einschränkungen sind keine festgehalten.

Wie schnell kann das System überhaupt wieder hochgefahren werden?

Der Bund arbeitet an Strategien, um das System hochzufahren. Der Ausstieg ist nur schrittweise möglich. Alleine die SBB brauchen drei Wochen Vorlauf, um den Normalbetrieb wieder hochzufahren. Die wissenschaftliche Taskforce, die den Bund berät, befasst sich intensiv mit der Transitionsphase. Sie prüft etwa, ob dank des Ausbaus der Testkapazitäten, des Aufbaus eines flächendeckenden Proximity-Tracings oder der Ausweitung des Maskentragens eine Situation erreicht werden kann, in der Schritt für Schritt die Massnahmen gelockert werden können.

Regieren die Bundesräte durch?

Der Bundesrat regiert aktuell mit Notrecht. Seit er die ausserordentliche Lage ausgerufen hat, kann er ohne Zustimmung des Parlaments weitreichende Entscheide treffen. Seine Notverordnungen sind maximal sechs Monate gültig, danach muss das Parlament dafür grünes Licht geben. Der Bundesrat kann also tatsächlich eine Zeit lang allein durchregieren und dabei auch Entscheide treffen, die normalerweise in der Kompetenz der Kantone liegen. Die Massnahmen des Bundesrats müssen verhältnismässig sein.

Welche Rolle spielt das Parlament in der Krise?

Die National- und Ständeräte haben sich selbst aus dem Spiel genommen, als sie die Frühlingssession Mitte März wegen der engen Platzverhältnisse im Bundeshaus abgebrochen haben. Nun nimmt das Parlament seine Arbeit langsam wieder auf: Die Finanzdelegation hat das Milliarden-Hilfspaket bereits gutgeheissen, ab kommender Woche tagen die Kommissionen wieder, und im Mai findet eine ausserordentliche Session statt. Das Parlament könnte dann Entscheide des Bundesrats abändern oder zum Beispiel weitere Hilfen für die Wirtschaft beschliessen.

Wirtschaft: Mehr Kurzarbeit, mehr Arbeitslose, Börsensturz

Wie tief geht die Rezession in der Schweiz?

Die Schätzungen variieren stark: Die Prognosen reichen von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung (BIP) um 0,5 bis 4 Prozent. Ein Einbruch des BIP um beispielsweise 4 Prozent führt zu einem Verlust an verkaufter Produktionsleistung im Wert von über 35 Milliarden Franken. Die meisten Konjunkturprognostiker gehen davon aus, dass sich die Wirtschaftsaktivität in den Sommermonaten wieder zu normalisieren beginnt. Auf dieser Grundlage sagen sie für das kommende Jahr starke Erholungseffekte voraus. Damit sollte bis Ende 2021 die nun entstehende Delle überwunden werden.

Wie wird der Wirtschaft geholfen?

Der Bund greift der Wirtschaft mit einem grossen Hilfspaket unter die Arme. 14 Milliarden Franken fliessen in die Kurzarbeitsentschädigungen, 40 Milliarden Franken werden Unternehmen als Liquiditätshilfe zur Verfügung gestellt. Bis Donnerstagabend sind laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) bereits Kredite in der Höhe von rund 14,3 Milliarden Franken beantragt worden. Ebenfalls im Hilfspaket enthalten sind rund 5 Milliarden für Erwerbsausfälle und 380 Millionen für Kulturschaffende und Sportvereine. Teils haben auch die Kantone Hilfspakete in Millionenhöhe beschlossen. Wie es aus gut unterrichteten Quellen heisst, wird der Bundesrat am Mittwoch zudem über ein Hilfspaket für die Luftfahrt beraten. Strittig ist unter anderem die Frage, ob neben der Swiss auch Easy Jet geholfen werden soll. Im Fall der Swiss, die eine Tochtergesellschaft der Lufthansa ist, muss sich der Bund zudem mit anderen Länder koordinieren. Ebenfalls am Mittwoch Tag beugt sich die Regierung auch über die Frage, wie grosse Unternehmen unterstützt werden sollen. Denn die Bürgschaften des Bundes gibt es bislag nur für Darlehen bis 20 Millionen Franken. Finanzminister Ueli Maurer deutete am Freitag die Stossrichtung des neuen Hilfspaket an. Unterstützung soll es nur für Firmen geben, welche für die Infrastruktur des Landes relevant sind.

Wer profitiert nicht von der Hilfe?

Tausende Selbstständige wie Taxifahrer und Physiotherapeuten, die im Prinzip zwar weiterarbeiten dürften, deren Geschäft aber wegen des fast stillgelegten Wirtschaftslebens weitgehend zusammengebrochen ist, fallen bisher durch die Maschen. Diese Woche entschied der Bundesrat, dass in Härtefällen auch sie unterstützt werden sollen. Bald soll es auch für Start-ups eine Lösung geben. Da die jungen Firmen meist noch keinen relevanten Umsatz haben, können sie auch keinen Notkredit beantragen.

Für wie viele Beschäftigte wurde bereits Kurzarbeit angemeldet?

Bis Donnerstagabend haben gemäss Angaben des Seco 109000 Betriebe für rund 1,3 Millionen Personen Kurzarbeit beantragt. Das entspricht 24,5 Prozent aller Erwerbstätigen. Damit wird der Rekord von 2009 infolge der Finanzkrise 2008 deutlich übertroffen, in welcher zeitweise über 92200 Personen von Kurzarbeit betroffen waren.

Kommt jetzt eine Arbeitslosigkeitswelle auf uns zu?

Vermutlich schon. Die Schweiz versucht, den Arbeitsmarkt mit Hilfe von Kurzarbeit im Zustand von vor Coronakrise einzufrieren. Die Frage ist, wie lange genug Geld zur Verfügung ist. Nach Ansicht der Ökonomen hat der Bund recht viel Spielraum. Er könnte an die 100 Milliarden Franken ausgeben, die Schweiz stünde dann punkto Verschuldung im internationalen Vergleich immer noch gut da. Aber es hängt alles davon ab, wie lange der Ausnahmezustand dauert. Ohne Kurzarbeit wäre die Kündigungswelle schon längst da. Das lässt sich am Beispiel USA ablesen, wo die Arbeitslosenzahlen explodiert sind.

Wie stark litt die Schweizer Börse unter dem Coronavirus?

Der Swiss Market Index (SMI) büsste im abgelaufenen Quartal rund 12 Prozent ein. Im Vergleich mit anderen Indices kam er damit glimpflich davon – vor allem, weil rund die Hälfte seiner Titel aus defensiven Branchen kommt. Die durch einen neuen Coronatest beflügelten Aktien von Roche konnten sich im Quartalsvergleich halten, Novartis büsste 14 Prozent ein. Auch die relativ konjunkturresistenten Titel von Swisscom und Nestlé verloren vergleichsweise wenig. Die Grossbanken mussten hingegen Federn lassen: Die Credit-Suisse-Papiere verloren 39 Prozent, jene der kapitalstärkeren Konkurrentin UBS 26 Prozent. Einen Viertel ihres Werts eingebüsst haben auch die Versicherungstitel.

Wissenschaft: Medikamente, Tests und die Masken-Frage

Weiss man nun, wie gefährlich das Coronavirus ist?

Nein. Die Gefährlichkeit eines Virus wird zum einen über die Ansteckungsgefahr und über die Tödlichkeit definiert. Entscheidend ist das Verhältnis der Zahl der Infektionen zu jenen der Todesfälle. Bei der Infektions- und der Mortalitätsrate gibt es aber grosse Fragezeichen. Viele Infektionen bleiben unerkannt, weil die Erkrankung meist harmlos verläuft und zudem nicht alle Menschen getestet werden. Die Zahl der Infektionen ist wohl höher, was die Sterblichkeitsrate senkt. Zum anderen ist auch nicht klar, ob die als Coronatote gemeldeten Todesfälle wirklich alle auf das Coronavirus zurückzuführen sind.

Sind unter den momentan 484 vom BAG bestätigten Coronatodesfällen in der Schweiz somit Tote zu beklagen, die zwar das Virus tragen, aber zum Beispiel wegen eines Nieren- oder Leberversagens gestorben sind?

Das ist so. Am Schluss entscheiden die Ärzte, woran jemand gestorben ist und das ist nicht immer eindeutig. Falsch klassifizierte Coronafälle sind möglich. Dasselbe gilt auch für die rund 1000 Grippeopfer, die jedes Jahr beklagt werden. Bei dieser Zahl handelt es sich um eine Schätzung – eine Hochrechnung, bei der den eindeutig bestimmten Grippetoten wahrscheinliche Grippeopfer dazugerechnet werden. Eine Studie aus Italien hat vor zwei Wochen gezeigt, dass von den Tausenden Coronaopfern nur drei allein wegen des Coronavirus gestorben sind. Allerdings gibt es wahrscheinlich auch Coronatodesfälle, die nicht bekannt sind und nicht in die Statistik fliessen. Sterberaten wie auch jene der Infektionen sind mit Vorsicht zu betrachten.

Was bringt eine Schutzmaske?

Es gibt bis heute keinen wissenschaftlichen Beweis, dass das Tragen von Masken in der allgemeinen Bevölkerung etwas bringt. Nutzen gibt es gesichert nur bei der professionellen Anwendung, zum Beispiel beim Pflegepersonal, und von Risikopersonen, aber nicht bei gesunden Personen. Ein möglicher Vorteil ist, dass sich Menschen mit Masken weniger an den Mund fassen und so Tröpfchen mit dem Virus einnehmen. Eine Maskenpflicht für die gesunde Bevölkerung rechtfertigt sich gemäss dem Bundesamt für Gesundheit nicht.

Woran wird geforscht?

An der Entwicklung von antiviralen Medikamenten, für die auch bestehende Wirkstoffe untersucht werden, um diese allenfalls in neuer Kombination gegen die Lungenerkrankung einzusetzen. Zudem an Antikörpertests, mit denen die Immunität von Personen festgestellt werden kann, welche die Covid-19-Erkrankung unerkannt durchgemacht haben. Weltweit wird nach Impfstoffen geforscht, die wohl erst nächstes Jahr eingesetzt werden können.

Wie steht es um Medikamente zur Behandlung von Coronapatienten?

Die Universität Zürich testet 5000 anti-virale Medikamente, Resultate sind erst Ende Jahr zu erwarten. Gleiches machen andere Hochschulen und Pharmafirmen. Roche entwickelt das Medikament Actemra/RoActemra. Das ist derzeit von keiner Gesundheitsbehörde, auch nicht von der US Food and Drug Administration (FDA), für die Behandlung von Covid-19-Patienten zugelassen. Roche hat angekündigt, eine klinische Studie bei hospitalisierten Patienten mit schwerer Covid-19-Pneumonie einzuleiten.
Welche Arten von Tests gibt es? In der Schweiz gibt es bis jetzt die etwa 200 Franken teuren Abstrichtests, die das Virus über eine Genanalyse nachweisen, den PCR-Test (Polymerase Chain Reaction). Auf den Markt kommen jetzt auch Bluttests, welche Antikörper im Blut nachweisen und damit eine allfällige Immunität des Getesteten nachweisen. Davon gibt es präzise Labortests und auch billige Schnelltests, die jetzt geprüft werden. In den ersten Tests haben die Schnelltests mehrheitlich nicht funktioniert.

Wie funktionieren Coronatests?

Der Nachweis für Sars-CoV-2 läuft über Abstriche aus dem Mund-, Nasen- oder Rachenraum. Im Abstrich des Virus kann Erbgut enthalten sein. In den Laboren wird das virale Erbgut durch einen empfindlichen molekularen Test nachgewiesen. Beim Bluttest werden bestimmte Antikörper gemessen, die auf das Coronavirus reagieren. Im Blut erscheinen die Antikörper frühestens nach rund zwei Wochen nach Auftreten von Symptomen.

Wie viele werden getestet?

Gemäss dem BAG können täglich 6000 bis 8000 Personen getestet werden. Die Firmen fahren die Produktion hinauf. Die grösste Schweizer Pharma Roche hat zwei PCR-Tests: Von diesen Tests liefert die Pharmafirma mehrere zehntausend pro Woche an Labore in der Schweiz. Roche kann pro Monat etwa 8,5 Millionen der beiden PCR-Tests liefern. Gleichzeitig wird bei Roche auch an der Entwicklung von Antikörpertests gearbeitet. Andere Hersteller bieten diese seit Anfang April an für die Labore in der Schweiz.