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Schweiz [News Service]

Der rote Wahlsieg der Grünen, die abstinenten SVP-Wähler und die Frauenwahl, die keine war - das zeigt eine neue Studie zu den Wahlen 2019

Die Selects-Wahlstudie hat die Wahlentscheidung bei den eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2019 unter die Lupe genommen - und ist zu überraschenden Ergebnissen gekommen. Die wichtigsten Erkenntnisse.
Politikwissenschafterin Anke Tresch leitete die Studie. (forscenter.ch)
Viele seiner Wähler blieben zu Hause: Noch-SVP-Präsident Albert Rösti. (Keystone / Anthony Anex)
Demonstrationszug am Frauenstreik 2019 in Zürich. (Keystone / Walter Bieri)

Christoph Bernet

Christoph Bernet

Christoph Bernet

Eine grüne Welle überrollte am 20. Oktober 2019 die Schweiz. Mit einem historischen Zuwachs von 6,1 Prozentpunkte erreichten die Grünen mit 13,2 Prozent der Stimmen ein neues Rekordergebnis. In ihrem Windschatten legten die Grünliberalen um 3,1 Prozentpunkte zu und erreichten 7,8 Prozent der Wählenden. Nichts zu lachen hatten SVP, SP und FDP: Sie fuhren beim Wähleranteil alle Verluste ein.

Von einer «Klimawahl» war in den Medien die Rede. Die Umwelt war das dominierende Thema im Wahlkampf. Die streikenden Schüler und ihre Botschaft - «Stop Climate Change» - hätten eine bisher unbekannte Mobilisierung für die Grünen ausgelöst, wurde weitherum angenommen. Und die durch ihren Streik vom 14. Juni 2019 mobilisierten Frauen hätten mir ihrer Wahlteilnahme für die rekordhohen Frauenanteile in National- und Ständerat gesorgt.

Eine neue Studie lässt nun Zweifel an diesen Interpretationen aufkommen. Die jüngste Ausgabe der Wahlstudie Selects des Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften FORS in Lausanne zeigt anhand der Befragung von 6664 Wahlberechtigten ein detailliertes Bild der Wählerströme und Entscheidungsgrundlagen für den Wahlentscheid auf. Die befragten Personen wurden vor und nach den Wahlen insgesamt drei Mal befragt. Die seit 25 Jahren durchführte Studie ermöglicht längerfristige Analysen über das Wählerverhalten.

SP-Wähler sorgten für Sieg der Grünen

Die erstaunlichste Erkenntnis: Die grünen Wahlsieger haben ihre eigene Anhängerschaft nicht besonders gut mobilisieren können. 44 Prozent derjenigen, die 2015 grün einlegten, nahmen 2019 nicht mehr an den eidgenössischen Wahlen teil - der schlechteste Wert aller Parteien. «Dass ausgerechnet beim Wahlsieger ein substanzieller Teil der bisherigen Wähler zuhaue geblieben ist, hat uns erstaunt», sagt Studienleiterin Anke Tresch. Bei jenen Grünen-Wählern, die 2019 wieder an der Wahl teilnahmen, entschieden sich aber vier von fünf erneut für die Grünen - dieser Wert ist nur bei der SVP höher.

Für den grünen Wahlsieg sorgten vor allem zwei Gruppen: Junge Wähler und ehemalige SP-Wähler. Bei den unter 34-Jährigen steigerten die Grünen ihren Anteil im Vergleich zu 2015 von 8 auf 19 Prozent. Die zweite Wahlsiegerin GLP legte von 8 auf 15 Prozent zu. Die SVP hingegen stürzte bei den Jungen von 29 auf 19 Prozent ab.

Der zahlenmässig grösste Zuwachs für die Grünen kam jedoch von den Sozialdemokraten. Mit 22 Prozent entschied sich fast jeder vierte, der 2015 die SP-Liste eingelegt hatte, dieses Mal für die Grünen: Die ehemalige SP-Wählerschaft macht damit rund einen Drittel der Grünen-Wählern vom Oktober 2019 aus. Wählerwanderungen innerhalb des linken Lagers sind in der Schweiz keine Seltenheit: «Dieses Mal war aussergewöhnlich, wie stark die Grünen bei ehemaligen SP-Wählern hinzugewinnen können», erklärt Tresch weiter.

Die Nationalratswahlen 2019 seien allgemein von grosser Volatilität gekennzeichnet, schreiben die Studienautoren. Rund 25 Prozent, die schon 2015 teilgenommen haben, wählten 2019 eine andere Partei. Dies war nicht nur bei einem substanziellen Teil der ehemaligen SP-Wählern der Fall. Auch die Grünliberalen konnten trotz ihrem Wahlerfolg weniger als zwei Drittel ihrer Wähler von 2015 wieder von sich überzeugen: «Als noch junge Partei hat die GLP noch keine treue Stammwählerschaft entwickelt», erklärt Politikwissenschafterin Anke Tresch. Zwar gehörten die Grünliberalen dieses Mal zu den grossen Siegern: «Doch ihre neuen Wähler könnten bald wieder weg sein.»

Die Mobilisierungsschwäche der SVP

Im Gegensatz zu den Grünen führten die Mobilisierungsprobleme bei einem Teil der eigenen Anhängerschaft bei der SVP zu einem Wählerverlust. Zwar gaben 85 Prozent jener SVP-Wähler von 2015, die auch im letzten Oktober wieder an die Urne gingen, der Partei erneut ihre Stimme. Aber 40 Prozent ihrer Wählenden von 2015 blieben 2019 zu Hause. «Der SVP gelang es so schlecht wie noch nie seit Beginn der Selects-Studien im Jahr 1995, ihre Anhängerschaft zu mobilisieren», bilanziert Tresch. Weniger als die Hälfe aller Personen, die mit der SVP sympathisieren, gingen letzten Herbst an die Urne.

Ähnlich grosse Mobilisierungsprobleme hatte die FDP. 38 Prozent ihrer Wählerschaft von 2015 blieb dieses Mal. Sie büsste laut Studienautoren vor allem bei den Frauen an Wählergunst ein.

Im Gegensatz zu den Freisinnigen gelang es der CVP ausserordentlich gut, ihre Anhängerschaft an die Urne zu bringen: Die Partei hat eine treue Stammwählerschaft, dank der sie ihren Wähleranteil einigermassen halten konnte. «Das Problem der Partei ist allerdings, dass diese Stammwählerschaft altersbedingt am Schrumpfen ist», sagt Anke Tresch. Ausserdem zeige die Nachwahlbefragung, dass die CVP weiterhin deutlich häufiger von Katholiken als von Protestanten oder Konfessionslosen gewählt werde: «Unter diesem Gesichtspunkt sind die Überlegungen, das C im Parteinamen loszuwerden und sich stärker als Mittepartei zu präsentieren, sicher nachvollziehbar», so Professorin Tresch.

Klimawandel statt Flüchtlingskrise als grösste Sorge

Thematisch war die Nationalratswahl vom letzten Oktober tatsächlich eine Klimawahl. Während bei der ersten Befragung im Mai/Juni 2019 nannte mit 29 Prozent noch eine relative Mehrheit das Thema EU/Europa als wichtigstes Problem. Vor den Wahlen im September/Oktober dominierte dann das Thema Umwelt/Energie bei 29 Prozent der Befragten die Agenda. Das spielte den Grünen in die Hände: Von jenen Wählenden, für welche die Umweltfrage das drängendste Problem war, entschieden sich 29 Prozent für die Grünen, 20 Prozent wählten die SP, 14 Prozent die GLP.

Die SVP war zwar für 59 Prozent jener Befragten die erste Wahl, für welche die Themen Einwanderung & Asyl das grösste Problem war - der höchste Wert einer Partei bei einem einzelnen Problemfeld. Doch das SVP-Paradethema zündete im vergangenen Wahlherbst nicht wirklich: Nur gerade für 10 Prozent der Befragten war es das grösste Problem. . Bei den Wahlen 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, nannten noch 44 Prozent der Wählenden das Thema Einwanderung und Asyl als grösstes Problem. Das hatte massgeblich zum Wahlsieg der SVP beigetragen.

Die Frauenwahl, die keine war

Am 14. Juni 2019 gingen mehr als eine halbe Million Frauen auf die Strasse, um für ihre Forderungen zu demonstrieren. Am 20. Oktober kam es zu einer historischen Frauenwahl: Mit 84 Nationalrätinnen und 12 Ständerätinnen sind die beiden Kammern des Parlaments so weiblich geprägt wie noch nie.

Doch es war keine überdurchschnittliche Wahlteilnahme der durch den Streik motivierten Frauen, welche für dieses Ergebnis sorgte. Die Frauen nahmen nämlich auch 2019 weniger häufig an den Wahlen teil als die Männer. Gingen 49 Prozent der wahlberechtigten Männer zur Wahl, so taten es nur 41 Prozent der wahlberechtigten Damen. Dieser «Geschlechtergraben» habe seit der ersten Selects-Studie 1995 nicht abgenommen, schreiben die Studienautoren.

Und doch ist der Frauenstreik nicht ohne Wirkung auf den Wahlherbst geblieben: Die Bereitschaft Frauen anstelle von Männern zu wählen, hat im Vergleich zu 2015 zugenommen. Auf die Frage, ob sie von zwei gleich qualifizierten Kandidierenden eher einen Mann oder eine Frau bevorzugen würden, antworteten mehr als zwei Drittel der Wählenden (68%) mit Ja. 2015 waren es noch 60 Prozent gewesen. Von den Frauen bejahten 80 Prozent, von den Männern 54 Prozent die Frage.

«Besonders die jungen Frauen bevorzugten dieses Mal viel stärker als noch 2015 bei gleicher Qualifikation weibliche Kandidierende gegenüber männlichen», erklärt Professorin Anke Tresch. Doch für den deutlich gestiegenen Frauenanteil in National- und Ständerat dürfte ein anderer Faktor von grösserer Bedeutung sein: «Die Parteien haben dieses Mal stärker darauf geachtet, mehr Frauen auf aussichtsreiche Listenplätze zu setzen oder für den Ständerat zu nominieren». Und das strukturiere das Wahlergebnis ein Stück weit vor, so Politikwissenschafterin Tresch.