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Schweiz

Beschränkung der Grundrechte: «Dies zeigt die Wucht der Eingriffe – daraus könnten Gerichtsfälle entstehen»

Der Bundesrat geniesse für seine Arbeit in der Coronakrise zu Recht eine gewisse Bewunderung, sagt Ständerat Andrea Caroni, Präsident der staatspolitischen Kommission. «Das darf aber nicht in eine allzu gläubige Exekutiv-Verehrung kippen.»
«Es fiel mir dann wie Schuppen von den Augen»: Ständerat Andrea Caroni, Präsident der staatspolitischen Kommission. (Keystone)

Othmar von Matt

Mit seinem Massnahmen in der ausserordentlichen Lage zum Coronavirus hat der Bundesrat gleich sieben Grundrechte eingeschränkt: das Recht auf persönliche Freiheit, Glaubensfreiheit, Anspruch auf Grundschulunterricht, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit. Das zeigte eine Recherche der CH Media Redaktion. Dazu kommt: Die politischen Rechte sind auf Bundesebene stillgelegt.

Der Bundesrat beschränkt mit seinem Notrechts-Regime sieben Grundrechte. Überrascht Sie das?Andrea Caroni: Mir war natürlich wie allen Leuten bewusst, wie flächendeckend die Massnahmen sind. Ich muss aber zugeben, dass ich die ausserordentliche Lage noch nicht unter dem Aspekt unserer Grundrechte studiert hatte. Es fiel mir dann aber wie Schuppen von den Augen.Was dachten Sie?Als Verfassungsrechtler dachte ich sofort: Wie vermittelt man der nächsten Generation von Juristen, wie dramatisch die Situation ist, die sich hier abspielt?Die Studenten sollen sich damit auseinandersetzen?Genau. Normalerweise sind maximal ein bis zwei Grundrechte involviert, wenn der Bund neue Gesetzte oder Verordnungen erlässt. So wird das auch gelehrt und geübt. Und nun schränkt ein einziges Massnahmenpaket gleich sieben Grundrechte ein. Das zeigt die Wucht der Eingriffe.Sind die Grundrechte in Gefahr?Sie sind eingeschränkt. Die Verfassung sieht vor, dass Grundrechte eingeschränkt werden können, wenn verschiedene Kriterien erfüllt sind. Ob die Voraussetzungen für diese Eingriffe tatsächlich vollständig erfüllt sind, wissen wir im Moment aber noch nicht. Dafür haben wir die Justiz. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass daraus noch Gerichtsfälle entstehen.Haben Sie dafür ein Beispiel?Zum Beispiel geht es um die Frage der Zuständigkeit. Ist der Bund oder ein Kanton zuständig? Ich hatte als Rechtsanwalt bereits eine Anfrage aus dem Kanton Uri. Er ging mit seinen Massnahmen viel weiter als der Bund.Sie sprechen Uris Ausgehverbot für über 65-Jährige an?Der Kanton Uri ging auch in anderen Dingen viel weiter als der Bund. Er schloss zum Beispiel sehr viele Läden. Um einen solchen Laden ging es. Wir prüften, das Vorgehens des Kantons Uri anzufechten – doch er nahm es dann selbst zurück. Ganz allgemein werden erst Gerichtsurteile zeigen, ob die Massnahmen in allen Fällen gerechtfertigt waren. Die Justiz existiert weiterhin. Sie darf sogar Verordnungen des Bundesrats im Einzelfall überprüfen, wenn sie angefochten werden.

«Die Justiz existiert weiterhin. Sie darf sogar Verordnungen des Bundesrats im Einzelfall überprüfen, wenn sie angefochten werden.»

Kennen Sie einen solchen Fall?Ja. Ein Solariumbetreiber wurde verurteilt, weil er sein Solarium nicht schloss. Es funktioniert in Selbstbedienung. Es bestehen kaum Kontakte zwischen Menschen. Er kann seinen Fall weiterziehen – und so die Verhältnismässigkeit überprüfen lassen.Wie beurteilen Sie die Arbeit des Bundesrats?Bislang als sehr gut. Und im geschichtlichen Vergleich noch nicht alarmierend. Ich habe die Zeiten des Notrecht-Systems im Ersten und Zweiten Weltkrieg studiert. Da gab es zwischen 1914 und 1952 durchgehend Notrecht.Durchgehend? Auch in der Zwischenkriegsphase?Es gab einen durchgehenden Notrechts-Stammbaum einzelner Massnahmen von 1914 bis 1952, und der Bundesrat wollte so weitermachen. Das ist krass. Das sitzt tief in mir: Selbst in unserer super-republikanischen, machtzerstäubenden und liberalen Demokratie gab es eine solch tief autokratische Epoche. Das war noch zur Zeit der Kindheit meiner Eltern.

«Selbst in unserer super-republikanischen, machtzerstäubenden und liberalen Demokratie gab es eine solch tief autokratische Epoche.»

Diese autokratischen Tendenzen gibt es aber nicht im Bundesrat von heute?Unsere sieben Bundesräte gehen sehr bewusst um mit ihren Instrumenten. Verglichen mit gewissen Kantonen und mit dem Ausland sind sie zurückhaltend. Ich spüre bei unserem Bundesrat einen heiligen Respekt im Umgang mit ihrer Macht. Etwas bereitet mir aber dennoch Kummer.Was?In der Bevölkerung könnte sich ein gewisser Anti-Parlamentarismus breitmachen. Der Bundesrat geniesst für seine Krisenarbeit – zu Recht – eine gewisse Bewunderung. Das darf aber nicht in eine allzu gläubige Exekutiv-Verehrung kippen. Wir Parlamentarier lobten die sehr gute Arbeit des Bundesrats. Doch wir müssen auch wieder auf das verfassungsmässige Geleise kommen.Das Parlament muss die Krisenmassnahmen demokratisch legitimieren.Richtig. Wir haben auch in einer Krise eine verfassungsrechtliche Aufgabe. Deshalb verlangten 32 Ständeräte eine Session mit einer breiten Diskussion zum Coronavirus. Zu meinem Erstaunen sagen jetzt aber viele Leute: «Lassen Sie doch den Bundesrat in Ruhe. Er macht das super. Das Parlament will sich nur profilieren. Es soll zuhause bleiben». Das ist für mich ein ungutes Echo aus alten Zeiten, als es hiess: «Jetzt ist Krise, wir brauchen nur noch starke, autoritative Organe und Figuren. Meinungsbildung, Pluralismus und Demokratie stören nur.» Das finde ich brandgefährlich.

«Zu meinem Erstaunen sagen jetzt viele Leute: Lassen Sie doch den Bundesrat in Ruhe. Er macht das super. Das Parlament soll zuhause bleiben.»

Die Medien spüren ein ähnliches Phänomen. Krisenzeit ist nicht Kritikzeit, sagen viele.Das finde ich falsch. Wir leben auch in der Krise von Widerspruch und vom Austausch der Meinungen. Jeder Immunologe muss sagen können, was er denkt. Genauso wie jeder Ökonom und jeder Journalist. Auch der Bundesrat ist darauf angewiesen, dass er nicht nur von Ja-Sagern umgeben ist – und von einem Volk, das nicht nur nickt und klatscht. Sondern von einem Volk, das vertreten durch sein Parlament kritisch mitarbeitet und seine eigene Rolle wahrnimmt.Befürchten Sie, dass das Notrecht-Regime Spuren hinterlässt?Nicht bei den Institutionen. Da bin ich guten Mutes. Sie sind viel stärker als noch in den 1940er Jahren. Vor allem wegen des Gesetzes, das Notrechts-Verordnungen auf sechs Monaten befristet. Hier liegt zum Beispiel auch der entscheidende Unterschied zum Notrechts-Regime von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán: Es ist unbefristet. Dennoch stellen sich bei mir ab und zu Nackenhärchen des Gruselns auf, wenn ich spüre, wie antiparlamentarische Gefühle aufkommen.