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Freiheitsentzug

60'000 Zwangsversorgte in der Schweiz

60'000 Menschen landeten im vergangenen Jahrhundert unschuldig in Psychiatrien, Strafanstalten, Erziehungsheimen und Arbeitserziehungsinstitutionen. Sie wurden administrativ versorgt. Dabei gab es Zwangsarbeit als Erziehungsmittel.
In einem Schreibheft zeichnete ein unbekannter Insasse der Trinkerheilanstalt Sapiniere 1929 seinen Alltag auf.
Bild: KEYSTONE/ANTHONY ANEX

Eine unabhängige Expertengruppe brachte Licht ins Dunkel. Sie hat am Montag in drei Büchern ihre Erkenntnisse veröffentlicht. Waren die Gefängnisse in der Zeit derart leer, dass man sie mit unehelichen Kindern füllen musste, fragt sich etwa eine der ehemaligen Zwangsversorgten in einem der Bücher. Sie war in Bellechasse FR inhaftiert und wusste weder, warum sie dort war noch für wie lange.

Die Inhaftierten hatten keine Delikte begangen. Ihre Lebensweise, die als "liederlich, arbeitsscheu" oder "sittlich gefährdet" galt, passte einfach Vormündern und Behörden nicht. Auch wer als "geistig abnorm, aber arbeitsfähig" beurteilt wurde, landete schnell in einer Institution.

Archive durchforscht

Die vom Bundesrat 2014 ins Leben gerufene Expertenkommission analysierte in den Jahren seither tausende von Dokumenten aus Archiven. Sie stützte sich auch auf Aussagen der administrativ Versorgten. Im September legt sie dem Bundesrat den Schlussbericht und ihre Empfehlungen vor. Derzeit erhalten die Betroffenen Entschädigungen.

Die Experten untersuchten die Periode vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1981. Der Beginn der Zwangsmassnahmen lässt sich nicht datieren. Jeder Kanton hatte seine eigenen Regeln.

Obwohl ohne Gesetzesgrundlage, wurde die administrative Versorgung für verschiedene Zwecke genutzt. Sie diente vor allem der Kontrolle ärmerer Bevölkerungsschichten und richtete sich zunächst unter anderem gegen Süchtige und Personen, die nicht der öffentlichen Moral entsprachen - hier vor allem gegen Frauen. Später gerieten auch "rebellische" Jugendliche in die Mühlen des Systems.

Arbeit als Erziehungsmittel

Die drei Bücher zeigen den Alltag der Versorgten auf und die Praxis der Behörden. Die Arbeit war zentral und wurde als Mittel gesehen, um eine Veränderung der Insassen herbeizuführen.

Die Vorstände der Institutionen scheinen an der Besserung ihrer Zöglinge aber weniger interessiert gewesen zu sein als an Gewinn und Rentabilität. Die Insassen wurden auch an Privatunternehmen vermittelt, wo sie dann für ein Taschengeld arbeiten mussten.

So profitierte etwa der Migros-Fleischverarbeitungsbetrieb Micarna, der Automatenbauer Selecta oder das Freiburger Elektronikunternehmen Saia von billigen Arbeitskräften aus der Anstalt Bellechasse.

Alle Publikationen stehen auf der Internetseite der Expertenkommission unentgeltlich in elektronischer Form zur Verfügung. (sda)