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Zurich Film Festival

Zürich stellt im Kino die Gretchenfrage: Woran glaubst Du heute noch?

Ein ägyptischer Fischer gerät in tödliche Machtspiele des Geheimdienstes, ein Pariser Ingenieur wird zum eremitischen Aussteiger: Die Sektion #myreligion des Zürich Film Festivals spürt Glaubenskonflikten der Gegenwart nach.

«Boy from heaven» zeigt die berühmte al-Azhar-Universität in Kairo.
Bild: Filmcoopi / Aargauer Zeitung

Die Sektion «Hashtag» des Zurich Film Festivals ist besonders: Sie soll nicht nur einen thematischen, sondern auch einen zeitgeistigen Zugang zum Kino ermöglichen. Abseits des üblichen Wettbewerbrasters wird ein Motiv aufgegriffen, das in den sozialen Medien trendet, und in ein aus acht Filmen bestehendes Nebenprogramm übersetzt.

Mit #myreligion macht sich das Programm-Team in diesem Jahr auf die Suche nach den «Altaren der Neuzeit», wie sie ihre Reihe beschreiben. Sie fragen dabei, wie es um die «neuen Gottheiten, Religionen und Kulte» steht. Aber Religion lässt sich nicht ganz so leicht neu erfinden und so spielen die alten Weltreligionen doch eine wichtige Rolle. Einige der Filme stellen Gemeinschaften in den Mittelpunkt, in denen das gesamte Zusammenleben von einer Religion bestimmt wird.

Glauben auf die Probe stellen

So etwa beim frommen Fischersohn Adam, der aus einem beinahe biblisch Umfeld an die renommierte al-Azhar-Universität in Kairo kommt und dort als Spion der Regierung Einfluss nehmen soll. Tarik Salehs cleverer Politthriller «Boy from Heaven» erzählt von einem Machtkampf innerhalb einer islamischen Glaubensgemeinschaft und erlaubt einen seltenen Blick hinter die Kulissen einer der bedeutendsten islamwissenschaftlichen Universitäten.

Ein weiterer Film, in dem der Glaube eines – dieses Mal kleinen – Jungen auf die grosse Probe gestellt wird, ist «El reino de Dios» von Claudia Sainte-Luce. Das stille Drama entpuppt sich als rührende Coming-of-Age Erzählung, in der der aufgeweckte achtjährige Neimar die christlichen Bräuche und spirituellen Praktiken seiner mexikanischen Dorfgemeinde kritisch beobachtet. Am Ende muss er lernen, die vielen Fragen, die er an Gott hat, für sich selbst zu beantworten.

Genrefilm als Katalysator

Gewaltsamer gestaltet sich hingegen der Ausbruch der jungen Frauen aus dem religiös-fanatischen Kult in Anita Rocha Da Silveiras «Medusa». Der feministische Horrorfilm beginnt mit einem Sitten-Szenario à la Margaret Atwood und entwickelt sich zu einen einnehmenden Emanzipationsschlag mit Teen Spirit. Im Genrefilm ist das Spiel mit dem Symbolhaften der Religion seit jeher ein fester Bestandteil; in der Überzeichnung zeigt sich immer auch eine Form der kritischen Auseinandersetzung.

Am Deutlichsten kommt das in der komisch-schrillen Gospel-Satire «Honk for Jesus. Save Your Soul.» von Adamma Ebo zum Vorschein. Interessant ist, dass die afroamerikanische Regisseurin ihre eigenen jugendlichen Kirchenerfahrung in das Drehbuch einbaut – was auch für das absurde Filmfinale zutrifft, in dem Hauptdarstellerin Regina Hall mit weiss getünchtem Gesicht «Lobgesang Pantomime» (praise miming) am Strassenrand performt, um neue Mitglieder für ihre evangelikale Freikirche zu werben. Die besten Filmvorlagen liefert das Leben immer noch selbst.

Kraft der Gemeinschaft

Eine positive Vorlage will «Cinema Sabaya» von Orit Fouks Rotem selbst sein. In der fiktiven Dokumentarfilm treffen arabische und israelische Frauen wöchentlich für einen gemeinschaftlichen Film-Workshop aufeinander. Durch die kreativen Übungen lernen sie sich erstmals kennen, entwickeln Freundschaften und üben sich darin, ihre politische und privaten Konflikte auszutragen. Ein beeindruckend authentischer Film, der Möglichkeitsräume eröffnet.

Der Aspekt der Gemeinschaft sprengt das vertraute Feld der klassischen Religionsauffassung in der Sektion. «TikTok, Boom» von Shalini Kantayya ist ein Dokumentarfilm, der sich nüchtern mit dem vor allem bei Jugendlichen äusserst beliebten sozialen Netzwerk TikTok beschäftigt. Er gibt eine Einführung in die digitale Weltgenscheinschaft, deren Risiken und Verheissungen ausführlich erklärt werden. Doch ob der Sog der Plattformen gleich als «neue Religion» verstanden werden muss, sei mal dahingestellt.

Vulkane und Alpengipfel

Die persönliche Hingabe für die eigene Sache beschreibt das «my» im Hashtag-Titel sehr gut. Es ist wunderbar, dass Wissenschaft nicht als Gegenspielerin der Religion auftritt. Denn die wahnwitzige Leidenschaft der zwei französischen Kult-Vulkanologen Katia und Maurice Krafft hat man so noch nie gesehen. «Fire of Love» von Sara Dosa fasst ihr filmisches Vermächtnis in einen bildstarken Dokumentarfilm. Im Zentrum steht das Unerklärliche, das sich in ihrer Liebe und in der Anziehungskraft zeigt, welche die Höllenschlünde dieser Erde auf sie ausübten.

Eine vergleichbar unerklärliche Faszination für einen Alpenkamm bringt einen Pariser Ingenieur (Thomas Salvador) in seinem mysteriösen Naturfilm dazu, der Zivilisation den Rücken zu kehren. In «La Montagne» führt er Regie und schlüpft in die Rolle des wortkargen Einzelgängers, dessen Hartnäckigkeit mit einer transzendentalen Erfahrung belohnt wird.

Die originell kuratierte Filmsektion ist gleichzeitig ein Schaukasten filmischer Genres. Weniger das Neue, sondern eher das Individuelle der Religionserfahrung steht verbindend im Zentrum, nicht das Konfrontative, sondern das Kathartische. Und auch der Kinobesuch ist ja selbst eine Art von religiöser Praxis.

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