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Klassiker des Monats

Scheitern mit Marcel Proust: nur ja nicht auf Seite 1 beginnen!

Seit dem Tod des Dichters vor 100 Jahren hält sich das Gerücht, sein Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» sei lesbar. Warum ich immer wieder lustvoll daran scheitere.

Marcel Prousts Hauptwerk ist ein siebenbändiger Roman.
Bild: Getty

Marcel Proust starb heute vor 100 Jahren und einem Tag. Seither hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sein Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» weiterhin lebt. Ich zweifle nicht, dass eine kleine Minderheit von Proustianern alle 5000 Seiten verschlungen hat.

Dem grossen Rest aber geht es wohl wie mir. Man nimmt diese Kathe­drale aller Romane zwar alle paar Jahre aus dem Gestell, um nach einigen Seiten erneut daran zu scheitern. Ich habe schon alles probiert: Damit das Werk nicht so abstossend monströs wirkt, habe ich mir eine Ausgabe angeschafft mit vielen Einzelbänden von niedlichem Format. Aber der Inhalt ist noch immer derselbe.

Proust-Sätze hauen uns um oder lassen uns ermatten

Eines habe ich schon gelernt. Man darf dieses gigantische Leseprojekt keinesfalls auf Seite 1 beginnen. Dort steht nämlich als erster Satz: «Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.» Da fallen mir auch gleich die Augen zu. Die Einschlafphase des Erzählers zieht sich über Seiten dahin.

Dann folgt die Aufwachphase und einer dieser beiläufig hingesetzten Proust-Sätze: «Vielleicht beziehen die Dinge um uns ihre Unbeweglichkeit nur aus unserer Gewissheit, dass sie es sind und keine anderen, aus der Starrheit des Denkens, mit der wir ihnen begegnen.» Sätze, die uns umhauen oder endgültig ermatten lassen.

Ein Kuss ist bei Proust ein so komplexes Gebilde wie die Relativitätstheorie

Um länger durchzuhalten, habe ich den 1100-seitigen «Dictionnaire Marcel Proust» gekauft. Dort erfahre ich, dass der Held seiner Albertine nach rund einem Drittel des Werks den ersten Kuss geben wird, nachdem sie einige hundert Seiten zuvor den Kuss noch verweigert hat. Ein simpler Kuss erscheint bei Proust als so komplexes Gebilde wie die Relativitätstheorie.

Um noch besser für mein Leseabenteuer gerüstet zu sein, schaffte ich zudem die über 1200-seitige massgebliche Proust-Biografie von Jean-Yves-Tadié an. Da lerne ich, dass Proust keineswegs nur im Bett lag als neurotischer Hypochonder und sich als Muttersöhnchen, Dandy und Drama Queen aufführte. Das sind nur Klischees.

Ein Ästhet versucht die «Substanz» des Ersten Weltkriegs zu erfassen

«A la Recherche du Temps Perdu» ist, was bei der Lektüre leicht vergessen gehen kann, ein Roman, der zu einem wesentlichen Teil im Ersten Weltkrieg entstand. Proust musste wegen seiner fragilen Gesundheit nicht einrücken, versuchte aber die «Substanz» des Krieges zu erfassen.

Während der Bombardierungen von Paris im Winter 1918 dachte er bereits «mit Schrecken an das neue Land, in dem man leben wird und aus dem so viele liebe Gesichter verschwunden sein werden». Ich habe noch längst nicht alle Gesichter seiner «Recherche» kennen gelernt. Aber diejenigen, die ich bis jetzt angetroffen habe, verschwinden nicht mehr.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurter Ausgabe, 3 Bände. Hg. von Luzius Keller, 5200 Seiten.
Jean-Yves Tadié: Marcel Proust. Biografie, Suhrkamp, 1265 Seiten.
Dictionnaire Marcel Proust. Hg. von Annick Bouillaguet und Brian G. Rogers, Champion Classiques, 2014, 1111 Seiten.

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