Wenn ich von Eltern höre, die ihren Kindern genderneutrale Namen geben und auf Nachfrage das Geschlecht nicht preisgeben, schüttle ich innerlich den Kopf. Ich denke: Meine Güte, das wär mir zu anstrengend, so einen Aufwand zu betreiben dafür, dass sich das Kind nicht zu einem Geschlecht hingedrängt fühlt. Und ich denke auch: Eure Müh ist vergebens.
Und doch ist ganz offensichtlich noch nicht alles zum Thema non-binär gesagt, zur Androgynie, wie man das Irrlichtern zwischen den zwei fixen Rollenbildern auch nennt. Kim de l’Horizon, Autor*in und Gewinner*in des Deutschen Buchpreises legte in seiner Antwort an Bundesrat Ueli Maurer seinen Finger auf den wunden Punkt. Maurer hatte gesagt, solange seine Nachfolge kein «Es» sei gehe es ja noch.
In der Replik schrieb Kim: «Das Erste, was wir hören, wenn wir auf die Welt kommen, ist nicht unser Name (...). Wir werden nicht in unserem Schönheitsreichtum wahrgenommen, sondern nur darin, ob wir JUNGE! Oder MÄDCHEN! sind. Dabei sind wir so viel mehr. Und dafür stehe ich. Für dieses SOVIELMEHR.» Kim erzählt vom Faustschlag eines Mannes, der danach sagte: «Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken, aber du bist mir einfach zu viel.» Kim de l’Horizon ist sich sicher: «Er bestrafte mich für den Lippenstift. Er bestrafte mich dafür, dass ich mir eine Schönheit jenseits des Erlaubten erlaubte.»
Pink gehört dem weiblichen Geschlecht
Kim de l’Horizon ist eine Provokation – für all jene, die sich weniger Schönheit gönnen, als er. Dazu gehört bereits ein Junge, der als Dreijähriger, wenn es um Farben ging, stets Pink wählte. Bis die ältere Cousine ihn lehrte: «Das ist eine Mädchenfarbe!» Pink, seinen wir ehrlich, ist ganz einfach eine prächtige Farbe. Keine andere strahlt so fröhlich. Aber sie gehört dem weiblichen Geschlecht.
Wie auch der Lippenstift – ein bisschen Farbe, so einfach, und schon fällt man mit einem Hauch Glamour auf. Nur für Frauen. Gleich erging es übrigens einem Vierjährigen, der mit dem Jupe der Schwester in den Kindergarten ging. «Du trägst einen Rock!?», rief ein Mädchen, noch bevor ihre Mutter es verhindern konnte.
Die Welt ist immer noch recht stur in männlich und weiblich eingeteilt und gerade auch die Kinder, wenn sie den Code einmal gelernt haben, halten streng an ihm fest. Denn es ist überlebenswichtig, als Kind die Regeln zu erkennen in der Gesellschaft, in die man geboren wurde. Klischees vereinfacht den Alltag: Wir sehen einen Mann, eine Frau und wissen schon einiges über die Person, ohne je mit ihr gesprochen zu haben. Ob sie weinen würde, wenn wir sie verletzen würden, ob sie selbstbewusst über ihren Lohn verhandeln würde, zum Beispiel.
Dass das biologische Geschlecht einen prägt, ist trotzdem eine Tatsache
Ich behaupte: Ohne Schubladendenken wären wir im Alltag oft überfordert. Aber dass wir nicht allen Pink und Lippenstift gönnen, geht trotzdem nicht. Ich habe öfter gesehen, wie schon zweijährige Buben, bevor sie Kontakt zu anderen Kindern hatten, von Maschinen fasziniert waren, aber Puppen keines Blickes würdigten. Selten umgekehrt. Ich bin überzeugt, dass das biologische Geschlecht mit Hormonen einiges steuert und zwar früh.
Aber wir machen es uns viel zu einfach. Und Kim de l’Horizon steht als brillante Schreiber*in und schillernde Person genau dafür, wenn sie schreibt: «Ich weiss, wie es ist, ein Mann zu sein in dieser Gesellschaft. Ich kenne das Gefühl, wenn einem gesagt wird, man sei privilegiert, aber being a man – ist heute – nennen wir’s beim Wort – fucking – hart. (…) Ich kenne eure Frustration, die Wut, die Angst.»
Kim steht genau dort hin, wo wir finden, das sei die Grenze zu weiblich und männlich. Und bohrt Löcher von der einen Schublade zur anderen, das Häufchen Sägemehl wächst.
Es ärgert vor allem, was jene desselben biologischen Geschlechtes tun
Wer kennt als Mann nicht eine Frau, die «männlicher» ist als er selbst. Welche Frau kennt nicht einen Mann, der sanfter, ängstlicher und gepflegter ist als sie selbst? Abweichungen des anderen Geschlechts provozieren in der Regel weniger als wenn jemand, der in der selben Schublade sitzen sollte, auf dem Spektrum der Geschlechter weiter geht.
In manchen Kulturen konnten Frauen früher, wenn kein Mann da war, selber zum Mann werden. Sie hatten also die Aufgaben – und Fähigkeiten der Männer. Nur das Irrlichtern zwischen den Geschlechtern ging noch nie.
Ich denke wirklich, die Müh der Eltern, die Kinder genderneutral zu erziehen, bis sie selber entscheiden können, ist vergebens. Nicht nur wegen belehrenden Cousinen und Kindergartengspänli. Es ist auch nicht gesund, das biologische Geschlecht zu verbergen, zu verneinen.
Aber solange wir als Gesellschaft nicht allen den Lippenstift und die Lohnerhöhung gönnen, so lange man mit Brüsten und einer tieferen Stimme in die eine oder andere Schublade gesperrt wird, solange auch werden manche trotz allen Fäusten und kleingeistigen Aussagen von Bundesräten aufstehen und sagen: Ich bin nicht nur das eng definierte Eine. Und ich zeigs euch mit Lippenstift. Es wird noch etwas dauern, bis alle das nicht als Provokation sondern als Einladung verstehen.