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Literatur

Javier Marias literarisches Vermächtnis: Sein postum erschienener Roman «Tomás Nevinson» ist grossartiger Erzählzauber

In seinem Romanvermächtnis, das Ehe- und Spionageroman in einem ist, triumphiert der kürzlich verstorbene Spanier Javier Marias ein letztes Mal als erleuchteter Geisterseher.

Der im September dieses Jahres verstorbene spanische Weltautor Javier Marias.
Bild: Bild: J. P. Gandul / EPA

«Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, dass eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Esszimmer befand, ihr Herz suchte.»

Sätze wie diese, die den Auftakt seines 1996 auf Deutsch erschienenen Romans «Mein Herz so weiss» bilden, machten den kürzlich an den Folgen einer Corona-Infektion verstorbenen Spanier Javier Marias weltberühmt; sie taten es in Form vertrackter, nicht selten endlos scheinender Schachtelsätze voller Bezüge und versteckter Verweise, die etwas von rätselhaften Krähenspuren in einer schneeverhüllten Geisterlandschaft besassen.

Bis zuletzt im Spannungsfeld von Rätsel und Täuschung

Denn das war der 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen vor allem: Ein Geisterseher und passionierter Geheimniskrämer, der das philosophische Rätsel ebenso liebte wie die literarische Ausschweifung. Sein neuer, nun als eine Art literarisches Vermächtnis zu lesender Roman «Tomás Nevinson» belegt dies ein letztes Mal anschaulich. Denn noch einmal gelingt dem Literaturphilosophen darin die kühne Verschränkung von Ehe-und Spionage-Roman zu einer Meditation darüber, wie «wirklich die Wirklichkeit ist» – und wie sehr wir allzu oft den Bildern erliegen, die wir uns von den anderen vorschnell zu machen pflegen. Also suchen seine Protagonisten Schutz hinter Masken und Verhüllungen, um im Geheimen das Leben zu führen. Entsprechend lässt Marias Tomás Nevinson stellvertretend für sich selbst bekennen: «So gut wie alles lässt sich leicht verbergen. Die Leute nehmen das Gegenteil an, aber im Grund ist nicht viel dabei, von Natur aus sind wir undurchschaubar und ein Rätsel, und die Lüge sieht man nicht.»

Grosses philosophisches Theater

Und schon befinden wir uns mitten in einem raffinierten Spiel aus Schein und philosophischem Theater. Denn was Marias als Fortsetzungsgeschichte seines 2019 auf deutsch erschienenen Romans «Berta Isla» entspinnt, versammelt ein letztes Mal in Form einer zur Spionage-Geschichte verkleideten grossen Weltbefragung seine zentralen Themen: Die Suche des Einzelnen nach Sinn und Bestimmung, das Gefangensein in den Begrenzungen seiner Identität – und die Doppelbödigkeit des Lebens an sich.

Entrollte «Berta Isla» die Beziehung zwischen Berta und Tomás als vielschichtige Nahaufnahme einer grossen Verfehlung, die Tomás einst in die Fänge des britischen Geheimdienstes trieb, so nimmt «Tomás Nevinson» die einst fallen gelassenen Erzählfäden wieder auf. Denn verloren sich Tomás Spuren während des tobenden Falklandkrieges, so taucht er nun wieder aus den Nebeln der Geschichte auf – als reaktivierter «Schläfer», der sich ein letztes Mal vom Geheimdienst für eine Mission einspannen lässt. Die Verbindung zu Berta, die Tomás mit seinem ebenso plötzlichen wie unerklärlichen Verschwinden für tot hielt und alleine in Madrid zurück blieb, keimt wieder auf – doch zu mehr als sporadischen Liebesnächten reicht es nicht mehr.

Suche nach einer vermeintlichen Attentäterin

Längst geht Tomás seinem letzten Auftrag nach, der ihn endgültig aus den Fängen des britischen Geheimdienstes - und damit aus seiner Geschichte befreien soll: Er erhält den Auftrag, eine nordirisch-spanische Attentäterin ausfindig zu machen, ein Mitglied der IRA, die als «Leihgabe» für die ETA gearbeitet – und mehrere Anschläge vorbereitet habe. Ihr Name laute Magdalena Orúe O`Dea und sie sei in einer spanischen Provinzstadt untergetaucht, wo sie unter falschem Namen lebe. Drei bereits ins Visier genommene Frauen kämen dafür in Frage. Und so begibt Tomás sich auf die Suche nach ihr, die – und das beschreibt Marias ein letztes Mal auf unnachahmliche Weise – für seinen «Niemand» zu einer finalen abenteuerlichen Reise an den Saum des Bewusstseins wird.

Denn als er sich in eine der drei Frauen verliebt, stösst Tomás endgültig an seine Grenzen als fühlendes und denkendes Wesen, sodass er nur noch den einen, einst von dem Portugiesen Fernando Pessoa philosophisch formulierten Wunsch hat, nämlich endlich «aus dem Wachen zu erwachen!» Der Rest ist grosser Fabulierzauber. Der Autor Marias ist tot – doch seine Gespenster bleiben unsterblich! Zum Glück für uns Leser.

Javier Marias: Tomás Nevinson. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, 734 Seiten.

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