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Influencer

Girl Gang Final

Frau Meures, Sie selbst sind mit nur einem Instagram-Account nicht ausgesprochen präsent in den sozialen Medien. Wie kamen Sie auf die Idee, vier Jahre lang den Aufstieg einer jungen Influencerin zu begleiten?

Ich bin einfach so ins Thema reingerasselt. 2017 sass ich auf einer Parkbank in Berlin und habe eine Gruppe Mädchen dabei beobachtet, wie sie pantomimische Tänze aufgeführt und die gefilmt haben. Das erschien mir irgendwann so grotesk, dass ich rübergegangen bin und sie gefragt habe, was sie da machen. Ich hatte mich zuvor nicht übermässig mit den Sozialen Medien beschäftigt. Doch plötzlich hat mich diese junge, weibliche Generation in Kombination mit ihrer Selbstpräsentation fasziniert.

Und dann haben Sie Leonie gefunden…

Ich habe 160 Mädchen gecastet, Leonie bin ich an einer Jugendmesse begegnet. Eigentlich wollte ich sie mit ihren Freundinnen filmen, dann habe ich gemerkt, dass die Geschichte in der Familie liegt. Was sich daraus entwickelt hat, ging ja über Jahre. Leonie hat mit 13 Jahren mit Social Media angefangen, wurde schnell populär, war sehr kreativ. Als ich sie mit Vierzehn kennengelernt habe, hatte sie eine halbe Million Follower. Da waren die Eltern noch gar nicht so involviert. Das passierte erst später, als sie sich nach Managern umgesehen haben. Wie man vielleicht dem Film entnehmen kann, sind das nicht immer die vertrauenswürdigsten Figuren…

Ich würde nicht mit Leonie tauschen wollen: Sie ist ein minderjähriges Mädchen, die in ihrer Freizeit ständig neue Inhalte schaffen muss, ihre Jugend zum Teil daran verliert und oft gestresst und überfordert wirkt.

Ich finde, es ist ein grosses Problem, dass die Leute so extrem wertend sind. Film ist für mich eine Empathiemaschine. So viele Zuschauer aus dem Bildungsbürgertum sehen den Film und stellen gleich eine Sinnhaftigkeit in den Raum, die jedem selbst überlassen werden sollte. Ja, Leonie ist extrem getrieben. Aber ihre Eltern tun wirklich alles für ihr Kind. Dass es Eiskunstlauf- oder Tenniseltern gibt, ist schliesslich auch kein neues Phänomen. Doch wenn es um Influencer geht und nicht um den jungen Pianisten, der von der Mutter sieben Tage die Woche zum Klavierunterricht gefahren wird, soll es plötzlich etwas völlig anderes sein.

Nicht unbedingt, die Pianisten- oder Tennisspieleltern ernten ebenfalls Kritik…

Das kann man ja auch grundsätzlich hinterfragen. Aber das Aussergewöhnliche entsteht nur durch diese Art von Konflikten. Sonst gäbe es überall Normalos und keine Steffi Graf. Und schau Dir an, was Leonie leistet, das musst du erst einmal schaffen: Eine halbe Million Follower zu sammeln. Ich möchte wirklich nicht bewerten, ob jemand die ersten Takte von Chopin wahnsinnig gut durchspielt oder sich jeden Tag neue Sachen wie kreative Tänze einfallen lässt, um die Zuschauer zu begeistern. Ich empfinde das als eine Fähigkeit, die nicht so sinnbefreit ist, wie viele meinen.

Wo sehen Sie Punkte, bei denen sich Ihre Protagonistin positiv entwickelt hat?

Leo hat sich bereits in jungen Jahren unglaubliche Fähigkeiten angeeignet, sie kann sich öffentlich vor einer Menge präsentieren, gut argumentieren, ist unglaublich selbstbewusst. Sie könnte eine sehr gute Moderatorin oder Journalistin werden, weil sie gelernt hat, sich durch alle Ebenen durchzuboxen. Natürlich war viel Druck da, aber das lag auch daran, dass sie zum Zeitpunkt des Drehs durch die Pubertät gegangen ist. In 99 Prozent aller Haushalte fliegen während dieser Zeit die Fetzen.

Können Sie nachvollziehen, warum Leonies Videos von so vielen Jugendlichen gesehen werden?

Diese Frage habe ich auch sehr vielen jungen Mädchen gestellt. Ich bin seit dem Dreh auch auf Instagram und natürlich erwische ich mich dabei, wie ich durch irgendwelche Feeds scrolle, die meistens visuelle Inhalte von Filmemachern oder Fotografen zeigen. Dementsprechend kann ich nachvollziehen, warum sich junge Leute dementsprechend für ihre eigenen Themen wie fürs Haare stylen interessieren. Wenn man die Fans fragt, was sie an Leonie fasziniert, antworten sie: «Sie ist selbstbewusst und gibt mir so viel Kraft, mit dem, was sie macht.» Für mich ist Instagram wie ein moderner, grosser Schulhof und Leonie ist da das populäre Mädchen, die von den anderen, die auch so sein wollen, eine Armlänge entfernt ist.

«Girl Gang» ist für mich auch ein Film über Eltern, die den Traum ihrer Tochter leben wollen...

Nein, das stimmt so nicht. Leonie lebt nicht das Leben, das ihre Eltern nicht haben können. Der Vater sagt: «Es ist unglaublich, was für ein Leben uns Leo ermöglicht.» Zum Beispiel das Reisen. Das heisst aber nicht, dass er selbst so leben wollte. Die Eltern mussten irgendwann die Manager werden, weil da draussen niemand war, der sich adäquat um dieses Kind kümmern konnte. Natürlich haben sie sich ein bisschen in die Bredouille gebracht: Einerseits mussten sie als Erziehungsberechtigte Grenzen setzen, andererseits sollen sie als Manager daran erinnern, noch einen Post hochzuladen. Sie wissen, dass das eine paradoxe Situation ist.

Sie sprechen viel positiver über die Auswirkungen eines Influencer-Lebens als ich selbst es im Film wahrgenommen habe oder wie «Girl Gang» von vielen Menschen rezipiert wird…

Mir ging es vor allem darum, eine aussergewöhnliche Familie mit einer aussergewöhnlichen Dynamik zu dokumentieren, mit allen ihren Höhen und Tiefen. Ich bin nicht mit dem Anspruch herangegangen, einen gesellschaftskritischen Film zu machen, sondern mit genauso frischen Augen und der gleichen Neugierde wie an meine beiden anderen Dokumentarfilme «Raving Iran» und «Saudi Runaway». Und ich finde, dass die Leute zu hart reagieren. Sie gehen nicht diesen einen Schritt weiter nach vorne und überlegen sich Dinge wie: Woher kommt diese Familie? Was löst diese Dynamiken aus? Ich habe den Eindruck, man versteht zu wenig, wie stark der Zusammenhalt in dieser ungewöhnlichen Familie ist. Gerade von bildungsbürgerlichen Zuschauern finde ich eine Verurteilung eines solchen Lebens extrem daneben. Wenn man denen ein Paar Schuhe von Lora für 250 Franken schenken würde, würden die sie doch genauso mitnehmen.

Ich verstehe den Punkt mit der Heuchelei und leugne nicht, dass ich das vermutlich genauso alles mitmachen würde, wenn ich Influencer wäre. Aber genau deshalb finde ich das problematisch, weil der Preis so hoch ist…

Wir haben doch nicht das Recht, über andere zu entscheiden, wie sie ihre Lebensträume verwirklichen! Wir streben alle nach einem besseren Leben und wie wir das machen, das kann ich jedem selbst überlassen.

Was würden Sie Ihrem Kind raten, wenn es Influencer werden will?

Ich habe keine Kinder, aber ich glaube, ich würde das nicht ernst nehmen. Weil ich weiss, wie unglaublich viel Zeit und Arbeit dahintersteckt, bis man eine grosse Reichweite hat. Du wirst nicht einfach Influencer von heute auf morgen.

Ich behaupte ja gar nicht, dass keine Arbeit dahintersteckt...

Leonie ist nicht nur ein Mädchen, das die ganze Zeit Produkte in der Hand hält. Sondern sie erschafft ganz viel anderen Content. Vor allem am Anfang mit 13 oder 14 Jahren war es ein leidenschaftliches Spiel. Natürlich dürfen wir nicht aussen vorlassen, dass es ein riesiger Antrieb ist, wenn Leute ein Like setzen, das kennen wir doch von uns selbst. Die digitalen Medien haben aus uns allen Dopamin-Junkies gemacht.

Also würden Sie derjenigen Kritik, die Influencer als oberflächlich und banal sieht, entgegnen: Bleibt mal locker, die Jugend hat immer schon ihr eigenes Ding gemacht, ist alles nicht so schlimm, kehrt mal lieber vor der eigenen Haustür?

Ja absolut. Ich denke zwar, dass es gut ist, ein Auge auf die Screentime der Kids zu haben. Aber mich nervt diese Heuchelei und der Kulturpessimismus. Ich erinnere mich an die Zeitungsartikel aus den 20er Jahren über das neue Medium Radio mit den Warnschlagzeilen: Haltet die Kinder vom Radio fern!

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