Wer sich unter einem Festival für zeitgenössische Musik eine abgehobene Veranstaltung vorstellt, erlebte zu Beginn des Forward-Festivals am Freitag eine Überraschung. Da nämlich wurden der Mikro- und Makrokosmos, der sich einem nur mit dem Mikroskop oder dem Teleskop erschliesst, so sinnlich erfahrbar gemacht, wie man es von Filmen wie «zehn hoch zehn» (Youtube) kennt.
Dessen Kamerafahrten hinaus ins Weltall und hinein ins Flimmern eines Kohlestoffatoms, wo sich dieselben Strukturen wiederholen, bildete das Konzert in zwei Teilen visuell wie musikalisch nach. Im ersten simulierte die phänomenale Projektionsanlage des Planetariums Schwindel erregende Sternfahrten, untermalt von meist grobkörnigen Improvisationen von Musikern des Lucerne Festival Contemporary Orchestra. Visuell wurde hier mit der grossen Kelle angerichtet: Wenn der Rundumhorizont des Luzerner Seebeckens versank, war es, als würden die im Kreis versammelten Zuschauer abheben ins All. Und wie auf einem Lunapark stürzte man gigantischen Planeten entgegen oder sah diese von weit her wie Geschosse auf sich zuschiessen.
Vom Schneegestöber hinein ins Kohlestoffatom
Auch wenn Tuba oder Flöte da auch raue oder sternschnuppenartig verglühende Akzente setzten, passten die Interventionen eher zum Sternenstaub, der in diesem grossen Kino wie Schneegestöber auf uns herabstürzte. Näher verbanden sich die Bilder und die Musik im zweiten Teil. Da stand mit Anna Thorvaldsdottirs Streichquartett «Enigma» mehr die Musik selber im Zentrum: Mit Klängen, die aus atomarer Zersplitterung und Vereinzelung zu archaischen Linien und geradezu sakral-feierlichen Harmonien zusammenwachsen. Damit schmiegten sie sich den fliessenden Geweben von Sigurður Guðjónssons Rundumvideo an, dessen mikroskopische Aufnahmen – ebenfalls eines Kohlestofffragments – die ganze Planetariums-Kuppel wie eine pulsierende Haut überzog. Ein hypnotischer Trip, dem man auch wegen der beschränkten Platzzahl unbedingt Wiederholungen gewünscht hätte.
Grosses Solo für die Putzequipe
Mit neuen Formaten zeitgenössische Musik näher ans Publikum heranzubringen, ist eine Kernidee des Forward-Festivals. Dass sie im Rahmenprogramm am originellsten umgesetzt wurde, bestätigte das Schlusskonzert am Sonntag. Es zeigte aber auch, dass in neuen Formaten die Werke oft nur als Materialsammlungen zu einer Leitidee dienen. Da bildeten zwar die musikalischen Strassentheater-Szenen von Unsuk Chin einen vitalen roten Faden. Aber dieser wurde von den dazwischen geschobenen Uraufführungen in alle Richtungen aufgedröselt – nennenswert war hier vor allem Charles Kwongs Raummusik «Elsewhere», die den Konzertsaal verzauberte.
Zum überraschenden Höhepunkt wurde aber das «Saubere Ende» (Konzept: ein Team um Urban Mäder). Der Unordnung, die eine witzige Klopapier-Performance hinterliess, rückte überfallmässig die verstärkte Putzequipe des KKL mit Bläsern, Saugmaschinen und scheppernden Putzkübeln zu Leibe. Da staunte man nicht nur über die Vielfalt dieser Geräuschmusik bis hin zum kollektiven Wasserlassen der Putzlappen in die Behälter. Als die Besucher von den Reinigungskräften gar von ihren Plätzen gedrängt wurden, rückten sie lachend in Gruppen zusammen. Besseres als eine familiäre Gemeinschaft, wie sie hier entstand, kann sich neue Musik – und nicht nur sie – gar nicht wünschen.
Samstag, 19. November, 18.30, KKL Luzern, Konzertsaal: Szenisches Konzert rund um György Ligetis Violinkonzert, mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja und – wie in allen Konzerten – dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra.
Late Night, Samstag, 19. November, 21.00, Neubad Luzern: Musikalischer Parcours durch das Neubad, u. a. mit dem Streichquartett The Rhythm Method und Improvisationen.
Kinderkonzert, Sonntag, 20. November, 13.00/14.15, KKL Luzern, Probesaal: Kinder von 7 bis 12 Jahren entdecken spielerisch, wie aus grafischen Partituren und eigenen Zeichnungen Musik entsteht.
Schlusskonzert: Sonntag, 20. November, 18.30, Konzertsaal KKL: Szenen aus einem Strassentheater von Unsuk Chin, ergänzt durch theatrale Werke und die kollektive Intervention «Ein sauberes Ende».
www.lucernefestival.ch