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Erzähltheater

Entbehrungsreiche Flucht durch den Krieg

Die Schauspielerin Nikola Weisse hat ihre Familiengeschichte aufgearbeitet und erzählt sie im Theater an der Winkelwiese in Zürich. Die Fluchtgeschichte basiert auf Fundstücken aus "Vaters Aktentasche", so der Titel des Stücks.
Nikola Weisse (r) und Thomas Gamma (l) bringen das Stück "Vaters Aktentasche" ins Theater an der Winkelwiese in Zürich. Uraufführung war am 21. September 2019.
Bild: Judith Schlosser

Nikola Weisse war vierjährig, als Vater und Mutter im März 1945 mit ihren fünf Kindern vor den anrückenden Russen die Flucht ergriffen. Die Familie lebte im pommerschen Belgard, das damals zu Deutschland gehörte. Heute heisst die Stadt Bialogard und liegt im Norden von Polen.

Die Flucht führte unter entbehrungsreichsten Bedingungen und durch ständige Kriegswirren bis nach Eisleben im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt. 1951 setzte die Familie ihre Flucht fort, aus der DDR raus nach Hagen in Westfalen.

Erinnerungsreiche Erzählung

"Eigentlich weiss ich sehr wenig", gesteht Nikola Weisse zu Beginn des 100-minütigen Abends. Sie war ja 1945 ein kleines Kind. Gleichwohl gelingt es ihr, die Fluchtgeschichte erinnerungsreich zu schildern. Zum einen verfügt sie über Vaters Aktentasche mit Briefen, Büchern, Fotos aus der Zeit.

Zum anderen kann sie auf die Erinnerungen ihrer älteren Geschwister Christian, Nelly und Elisabeth zurückgreifen, die über Lautsprecher zu Wort kommen, mehr noch, mit Nikola auch in einen Dialog treten. Dieser gelungene Regietrick (Manuel Bürgin) treibt den Abend mit teilweise witzigem Gesprächspingpong vorwärts.

Schweigender Mitspieler

Bei ihren Recherchen hat Nikola Weisse den Germanisten und Historiker Thomas Gamma an ihrer Seite gehabt. Er unterstützt sie jetzt auch auf der Bühne mit Handreichungen, indem er zum Beispiel Fotos und Landkarten an die Wand des Kellertheaters projiziert.

Zu Wort kommt Gamma nicht. Leider muss man sagen, denn seine Kenntnisse hätten die Substanz des Abends mit Sicherheit erhöht, war er es doch, der für die Auswahl der gesprochenen Texte und für die Struktur des Stücks verantwortlich zeichnet.

"Vaters Aktentasche" gibt historische Einblicke der ganz persönlichen Art. Am Schluss entdeckt Nikola Weisse in Vaters Dokumenten ein neues Bruchstück: einen Brief, den sie bisher noch nicht gelesen hat. Damit könnten Teile der Fluchtgeschichte neu geschrieben werden. Erinnerung ist nie vollständig, Lücken bleiben immer. Das zeigt der Abend eindrücklich.

Verfasser: Karl Wüst, ch-intercultur (sda)