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Luzerner Theater

Das verbotene Kind und sein Schweizer Nachbar

Wie übersetzt man die traumatischen Erfahrungen, die Tausende von illegalisierten Saisonnier-Kindern machten, in ein Theaterstück? Es gibt viele Gründe, warum das im UG des Luzerner Theaters gespielte Stück «Versteckt» erreicht, was es will, ohne zu erdrücken. Dazu gehören auch Betty und Teddy.

Angst: Durch ein Missgeschick wird der Nachbar, Herr Herbster (Rüdiger Hauffe), auf Lucia (Wiebke Kayser) aufmerksam.
Bild: Bild: Ingo Höhn/Luzerner Theater

«Es war einmal …», beginnt Teddy. «Weisst du noch?», fragt Betty. Normalerweise trägt die 10-jährige Lucia ihre Spielgefährten, eine Puppe und ein Teddybär, unter dem Arm. Jetzt aber haben sie, menschengross, ein Eigenleben entwickelt. Sie sollen Lucia helfen, ihre Geschichte zu erzählen. Und diese ist kein Märchen. Aber vergessen. «Verboten und vergessen», sagt Lucia (Wiebke Kayser).

Es ist ein packender, origineller Einstieg ins Stück «Versteckt», welches am Donnerstagabend in der Aussenspielstätte UG des Luzerner Theaters Uraufführung feierte. Lucias Geschichte steht exemplarisch für das Schicksal von illegalisierten Saisonnier-Kindern, die versteckt in der Schweiz lebten. Es waren viele. Eine neue Studie geht davon aus, dass zwischen 1949 und 1975 fast 50'000 Kinder davon betroffen waren.

Ein spielerischer Einstieg auch, der dem Publikum erst einmal ein Lachen entlockt. Es ist ein schwerer Stoff um Scham, Schuld und Trauma, dem das renommierte Autorenduo Ariane von Graffenried und Martin Bieri durch die verschiedenen Erzählperspektiven, die Figurenzeichnung und besonders die Sprache Humor und Poesie einhaucht. Sie fügen Schicksale von Betroffenen zusammen, die sich 2021 im Verein «Tesoro» zusammengetan haben. Wie der Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder» (in den Kinos Bourbaki, Luzern, Cinema Leuzinger, Altdorf) geben sie ihnen eine Stimme.

Eine Wand aus Koffern

Ugo (Martin Carnevali) arbeitet auf dem Bau, Zora (Carina Thurner) in der Fabrik. «Psst», sagt der Vater jeden Morgen zu seiner Tochter, «leise sein.» Lucia versucht, sich unsichtbar zu machen. Herr Herbster ist Nachbar und Polizist in Personalunion. Die überspitzte Version des rechtschaffenen und pedantischen Schweizers, sehr amüsant gespielt von Rüdiger Hauffe. Ein Gesetz ist ein Gesetz, da zähle jeder Punkt, ja jedes Komma.

Die Gestaltung der Bühne (Damian Hitz) ist dabei so einfach wie genial. Eine Wand aus Koffern, die ein Leben in Angst und Unbeständigkeit suggeriert. Auf Stangen aufgespiesste Drehelemente, die als Tür oder als Fenster in Herrn Herbsters Wohnung funktionieren in diesem 70er-Jahre-Block. Die Koffer stehen auch sinnbildlich für die Bahnhofsszene, die Zora erzählt: Saisonniers kommen an, Schweizer fahren in die Ferien. Unterschiedliche Lebensstandards.

Lucia muss auch in die «Kiste»

Ariane von Graffenried und Martin Bieri greifen alles auf. Verstehen es, wirtschaftspolitische Fakten mit dem Privaten zu verbinden. Angefangen mit dem Dilemma der Eltern, das eigene Kind in der Heimat zurückzulassen oder zu sich in die Schweiz zu holen. Was ist besser für Lucia? Bei der Grossmutter Kind sein zu können oder bei Mama und Papa zu sein?

Die Grossmutter stirbt und Lucia wird mit dem Auto über die Grenze geschmuggelt. Sie steigt in die «Kiste», wie die Grossmutter. Es wird dunkel im Saal, die Musik (Mario Marchisella) verstärkt das Unbehagen. Die Angst wird spürbar. Lucia spricht wie ein Kind und doch wie eine Erwachsene. Das ist sinnlich und lustig zugleich. Ein Kind versucht, die Welt und Ereignisse, die es nicht versteht, in Worte zu fassen. Von Graffenried und Martin Bieri haben Texte von Francesco Micieli einfliessen lassen, in denen der Berner Schriftsteller aus verschiedenen Perspektiven von Migrationserfahrungen erzählt.

Wiebke Kayser ist grossartig als Kind und scheint fast ein bisschen Mühe zu haben, am Schluss noch in die Erwachsenenrolle zu schlüpfen. Und was ist aus Betty und Teddy geworden? «Sie sind immer bei mir», sagt die erwachsene Lucia. Die einst einzigen Spielgefährten sind zu einem Symbol einer Kindheit im Verbotenen geworden in diesem dichten, kurzweiligen Schauspiel, das allen ab 13 Jahren sehr ans Herz gelegt sei.

«Versteckt», bis 25. März, UG, Luzerner Theater; https://www.luzernertheater.ch/versteckt

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