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Türkei

Türkische Regierung drangsaliert Kritiker

Nach Protesten gegen das Referendums-Resultat in der Türkei geht die Regierung mit Festnahmen gegen Kritiker vor. Justizminister Bekir Bozdag erklärte nach der Zurückweisung von Betrugsvorwürfen durch die Wahlkommission die Debatte über den Volksentscheid für beendet.
Ohne Manipulationen während der Abstimmung über das Referendum zum Präsidialsystem am vergangenen Sonntag hätte er seine knappe Mehrheit möglicherweise gar nicht erzielt: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. (Aufnahme vom Abstimmungstag am 16. April)
Bild: KEYSTONE/AP/LEFTERIS PITARAKIS

In Istanbul nahm die Polizei am Donnerstag einen linken Journalisten fest, nachdem am Vortag bereits 16 Aktivisten inhaftiert worden waren, die an Protesten gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan beteiligt waren.

Die Opposition protestiert gegen eine Entscheidung der Wahlkommission, die während der Abstimmung am Sonntag bestimmt hatte, auch Stimmzettel ohne offiziellen Stempel mitzuzählen. Laut der Opposition verstösst dies gegen geltendes Gesetz, doch wurde ihr Antrag auf Annullierung der Abstimmung am Mittwoch von der Wahlkommission zurückgewiesen.

Die Regierung forderte die Opposition auf, das Ergebnis anzuerkennen, und warnte sie vor weiteren Protesten. Die oppositionelle kemalistisch-sozialdemokratische CHP kündigte aber an, "alle demokratischen Rechte" zu nutzen, um eine Wiederholung der Abstimmung zu erreichen. Die CHP werde das Ergebnis und die neue Verfassung nicht anerkennen, sagte Parteisprecherin Selin Sayek Böke.

Stimmenbetrug im kurdischen Landesteil

Die CHP veröffentlichte laut der Zeitung "Hürriyet Daily News" einen Bericht mit mutmasslichen Unregelmässigkeiten. Demnach enthielten 960 Wahlurnen im Osten und Südosten des Landes, wo keine Wahlbeobachter im Einsatz waren, ausschliesslich Ja-Stimmen. In 2645 Wahlurnen hätten sich zudem mehr Stimmen befunden, als es registrierte Wähler im Stimmbezirk gab.

In Oppositionskreisen ist die Rede von bis zu 2,5 Millionen unregistrierten Stimmzetteln - zusammen mit den Behinderungen im von der Armee bedrängten kurdischen Landesteil kann über einen beträchtlichen Ausfall von Nein-Stimmen spekuliert werden. Das wiederum hiesse, dass Präsident Erdogan das Referendum mit einiger Sicherheit verloren hätte ohne Manipulationen von offizieller Seite.

Wahlkommission unangreifbar

Der Leiter der Wahlkommission, Sadi Güven, sagte, er werde sich zu den CHP-Vorwürfen nicht äussern. "Ich bin kein Politiker, ich bin Richter", sagte Güven. Die elf Mitglieder der Kommission hatten am Mittwochabend bei einer Gegenstimme den CHP-Antrag sowie Beschwerden der prokurdischen HDP und der Anwaltskammern von Istanbul und Ankara abgeschmettert.

Justizminister Bozdag sagte dem Sender A-Haber, die Entscheidung der Wahlkommission sei richtig und definitiv, ein Einspruch dagegen unzulässig. Das Verfassungsgericht habe nicht "die Autorität oder das Recht", die Entscheidung der Wahlkommission zu überprüfen. Auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sei aussichtslos.

Europarat wenig optimistisch

Auch der Europarat sieht im Streit um eine Annullierung des Referendums derzeit keine Handhabe. "Keine internationale Institution hat die Möglichkeit, in irgendeinem Land ein Referendum für nichtig zu erklären", sagte Generalsekretär Thorbjörn Jagland in Strassburg.

Denkbar sei allerdings eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Entscheidung der türkischen Wahlkommission, das Referendum trotz Manipulationsvorwürfen nicht zu annullieren. Bisher gebe es aber keine Rechtsprechung zu Volksabstimmungen.

Anhaltende Proteste in Istanbul

In Istanbul kam es am Donnerstag den fünften Abend in Folge zu Protesten gegen das Verfassungsreferendum. Hunderte demonstrierten im zentralen Stadtteil Besiktas und in Kadiköy im asiatischen Teil der Metropole friedlich gegen Erdogan und die Wahlkommission.

Auch in weiteren Vierteln Istanbuls, in der Hauptstadt Ankara, im westtürkischen Izmir und mehreren anderen Städten des Landes hatten Organisationen erneut zu Protesten aufgerufen.

Die Demonstranten kritisieren, bei der Volksabstimmung habe es starke Unregelmässigkeiten gegeben. Seit Anfang der Woche wurden mehr als 80 Aktivisten festgenommen.

Das linke Onlinemedium Sendika.org meldete am Donnerstag zudem, dass ihr Redaktor Ali Ergin Demirhan am frühen Morgen in Istanbul festgenommen worden sei, weil er in den sozialen Medien Proteste organisiert und das Ergebnis als "illegitim" dargestellt habe.

Bei dem umstrittenen Referendum am Sonntag hatte laut dem offiziellen Ergebnis eine knappe Mehrheit von 51,4 Prozent für die Einführung eines Präsidialsystems mit weitreichenden Vollmachten für Präsident Erdogan und eine Aushebelung der Gewaltenteilung gestimmt.

Präsident Erdogan erklärte sich schon am Abend zum Sieger und drang in seiner Siegesrede auf die Wiedereinführung der Todesstrafe, notfalls in einem weiteren Referendum. (sda/afp/dpa)